von Salomé Balthus
Neulich war ich im Telegraphenamt. Dieses neue Grandhotel am Monbijoupark. Todschick. Art Déco, und sehr viel Roaring-Twenties-Flair. Das kommt nicht aus der Mode in Berlin, das mögen wir hier. Weil seit hundert Jahren jeder Berliner gern den Berliner spielt. Jeder Berliner ist nebenberuflich Berliner.
Die Neue
Ich war dort rein geschäftlich. Um jemanden zu treffen, im passenden Ambiente, passend zu der Arbeit, um die es ging. Um zu sehen, ob die Person sich einfügte in dieser eleganten Sphäre. Ich war dort in meiner nächtlichen Rolle, für die ich einschlägig bekannt bin. Ich bin die Chefin des ruhmreichsten Luxus-Escortservice der Stadt, eine Art Star der Halbwelt. Das Team an der Rezeption begrüßte mich respektvoll, als ich in die Lobby einmarschierte.
Ich war dort, um eine Bewerberin zu treffen. Es bewerben sich im Schnitt drei bis fünf Frauen bei mir. Pro Woche. Seit ich dieses Portal für Edel-Escort-Dates mit feministischem Vorzeichen ins Leben gerufen habe. Sie alle wollen durch mich Prostituierte werden. Frauen jeden Alters, und aus allen sozialen Schichten. Überwiegend jedoch junge Akademikerinnen. Frauen, die studiert haben, einen oder mehrere Jobs haben, und versuchen, allein ihr Leben in unserer immer teurer werdenden Hauptstadt zu finanzieren. Frauen, die sich das genau überlegt haben. Der Fragebogen, den sie auf meiner Website ausfüllen müssen, ist lang. Und wenn ich sie frage, warum sie das wollen, Prostituierte werden, dann verstehen sie nicht, wie ich so etwas überhaupt fragen kann. Es sei doch ihre Bestimmung, etwas das sie schon immer in sich gefühlt hätten! Ich stelle ihnen auch die Frage, inwiefern Prostitution ein emanzipativer Akt sein kann. Und alle beantworten sie diese Frage in einer Weise, die sich, unabhängig von der Formulierung, dem Bildungsgrad oder der Eloquenz, auf den einen Begriff bringen lässt: Selbstbestimmung.
Sie saß an der Bar: dunkler Typ, angezogen wie ein College-Girl, mit kariertem Rock und einem roten Barett. Ich wusste einem kurzen Blick in ihr intelligentes Gesicht, dass sie die Richtige war. Sie hatte einen Master in Politikwissenschaften und seit einem Jahr ein Start-up für feministische (also: unkommerzielle) Pornofilme. Und brauchte also Geld.
Sie nannte sich Luca. Ob wir bei dem Namen bleiben würden, stand noch zur Debatte. Es gibt, unter den Escorts dieser Stadt, zu viele Lucas.
Stadt der Huren
„Es gibt überhaupt zu viele“, erklärte ich Luca: „Der Markt ist dermaßen umkämpft. Man muss sich etwas einfallen lassen. Die Zahlen der Gelegenheitsprostituierten kennt natürlich keiner, aber sie sind allgegenwärtig, wenn man einen Blick dafür hat. Das ist halt Berlin. Das war schon in den zwanziger Jahren so. 2023 – oder 1923? Was den ausländischen Berlinbesuchern als erstes auffiel, wenn sie bei Nacht durch die Stadt flanierten, waren die Huren. Berlin hatte nie ein Rotlichtviertel. In Berlin streut das Rotlicht über die ganze Stadt. Schon seit Napoleon machen die Berlinerinnen überall Visematenten – du verstehst, woher der Ausdruck kommt: Visite ma tente!“
„Warum waren es damals schon so viele, in den Zwanzigern?“
„Weil es eine Denkmöglichkeit war. Weil die alte Tugend nichts mehr galt. Weil das Unmögliche möglich geworden war.“
„War das hier so? Meiner Großmutter ist noch eingeschärft worden: Die Zierde des Weibes ist seine Keuschheit“, deklamierte Luca.
„Die Reinheit, die sogenannte.“
„Dieses Ammenmärchen vom Jungfernhäutchen!“
„Wenigstens weißt du, dass es ein Märchen ist.“
„Viele glauben noch heute daran.“
„Seit Jahrhunderten hören wir uns das an. Die patriarchalen Sitten, nach denen eine Frau nur so viel Wert ist, wie die Vaterschaft der Leibesfrucht gewiss ist.“
„Die Ehre des Mannes als Sinn und Zweck staatlicher Ordnung…“
„… und die Frau als Fruchthülse dieses Staates. Der Staat, der dem Ideal der Mannhaftigkeit huldigt, weil er Soldaten braucht für die ganze teutsch-deutsche Herrlichkeit. Und jetzt stell dir das vor: Der große Krieg war verloren. Preußen kaputt. Der soldatisch-steife Drill war alles, was sie konnten, hier in Berlin, einer Stadt ohne alte Geschichte, ohne religiöse Tiefe und altangesessenes Patriziat. Berlin, Stadt der konfessionellen Vielfalt. Geeinigt und kontrolliert nur durch Militarismus und Gehorsam. Das alles jetzt war für immer erledigt. Die Soldaten weg, oder menschliche Wracks. Die Inflation: die große Entwertung der Werte. Die Neubewertung. Was hat Wert? Kein Geld, kein Klimbim. Nur Naturalien. Und das eigene Fleisch. Die Berliner sind ein pragmatischer Menschenschlag. Sie überleben, weil ihnen einfach nichts Höheres einfällt, für das es sich zu sterben lohnt, schon gar keine Moral. Die deutsche Frau ist keine Hure? Na, dann will die Hure eben keine deutsche Frau mehr sein. Mieder aus und Zigarette an, Lippenstift und Bubikopf. Anita Berber statt La Traviata. Morbide, aber unsentimental! Jede muss zusehen, wie sie durchkommt, und so manche merkt dabei: es ist gar nichts dabei. So wie du.“
„Ich finde ja wirklich, es ist gar nichts dabei!“
„Natürlich nicht. Die Prostitution verliert ihre ruchlose Aura im Moloch einer Stadt, wo Hunderttausende sich in komplexe sexuelle Beziehungen verstricken, die alle irgendwie kommerzieller Natur sind.“
„In Berlin kann ich mir das vorstellen…“
„Es hat das Bild von Berlin in der Welt geprägt. Es ging damals durch alle Milieus: nicht nur die ausgebeuteten Arbeiterinnen, die sich nebenbei prostituieren, am Alex und im Scheunenviertel. Es ist die riesige Schar der Angestellten! Stenotypistinnen und Warenhausverkäuferinnen, die, als Halbseidene, nach Feierabend auf Wilmersdorfer Plätzen Männern auffallen wollen. Flapper, Nutten, Minetten. Dominas und Stiefelmädchen. Sogar Grunewalder Großbürgertöchter und ihre Mütter gehen auf der Tauenzienstraße auf Beute aus. Manche aus Spaß, manche aber auch, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten. Witwen berühmter Wehrmachtsgeneräle öffneten Touristen für ein paar Dollar oder schwedische Kronen ihre Schlafzimmer!“
Mein beeindruckendes Halbwissen hatte ich aus dem Buch Voluptuous Panic –The Erotic World Of Weimar Berlin, einem Werk des amerikanischen Kunsthistorikers Mel Gordon. Geschenk von einem Kunden.
Die guten Sitten
„Kein wilhelminisches Jawollja hielt den anarchistischen Stadtsumpf mehr in Zaum! Die Regierung hatte den Weltkrieg verloren. Was taten die ehemaligen Untertanen? Sie tanzten!“
„Der Tanz auf dem Vulkan…“
„Das ist leicht gesagt. Der Unterschied zwischen denen damals und uns ist, dass wir wissen, dass es noch einen zweiten Weltkrieg gab.“
„Was wären wir eigentlich gewesen, in den Zwanzigerjahren?“
„Am ehesten wären wir wohl Tischfrauen gewesen. Edelhuren, Geishas, einen Abend lang in bei Champagner und feinen Schnittchen weltgewandte Konversation machten, und schließlich den reichen Großkapitalisten, Filmmogulen oder Politikern, ein Stelldichein im Séparée gewährten.
„Wir leben in den Goldenen Zweitausendzwanzigern!“
„Nur, dass wir fast billig sind, im Vergleich zu damals: ein Abend mit einer Tischdame kostete oft mehrere hundert Dollar. Während im Paris der Zwischenkriegszeit die Dienste einer Bordellhure um die sechs Dollar kosteten, konnten man in Berlin der Hyperinflation für fünf Dollar einen ganzen Monat lang Sex kaufen. Sex war die Ware der Hauptstadt, als Großdeutschland büßen musste mit Reparationen. In der Friedrichstadt und am Ku´ Damm überboten sich die Varietés und Kabaretts in der Aufführung von nacktem Fleisch: Biedere bürgerliche Ehepaare, die einst ein ruhiges Leben geführt hatten mit festem Einkommen und Pension in ihren Gründerjahrezimmern aus der Muschelzeit: sie hatten alles verloren, und wer zu feige war zum Selbstmord, bot ausländischen Kunden auf Anfrage einen ehelichen Live-Porno. Ganze Familien, von der apathischen Großmutter bis zum minderjährigen Mädchen und puppenhaft geschminkten Knaben, hielten sich an Varietétischen an Limonaden fest, und hofften, einem der perversen Dollarmillionäre aufzufallen, die angezogen waren von der Weltstadt des Lasters und ihrer wilden Bewohner. Angeblich sollen ganze 25% bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im nächtlichen Amüsierbetrieb dilettiert haben. 25% aller erwachsenen Berliner! Ein Viertel der Bevölkerung!“
„Aber war das denn damals nicht verboten?“, fragte Luca, die Politikwissenschaftlerin.
„Verboten? Kriminell? Wie gesagt, die staatliche Autorität war in einer Krise. Die Leute dachten so: Lasst sie doch kommen, die Uniformierten. Lasst sie ihre lädierte Autorität noch mehr überstrapazieren. Sonst noch was? Machen doch alle. Man kommt ja sonst zu nüscht. Und wenn es viele machen, zu viele, um sie alle einzufangen und einzusperren in einem deutschen Gefängnis, dann beugt sich die Autorität eben der Realität. Fünf Jahre später, 1927 war es schließlich soweit – die erste Legalisierung der Prostitution, verklausuliert als Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Neue Sachlichkeit, eben.“
Überzeugungstäterinnen
Durch die schummrige Weite des Raumes, mit weißblondem Knabenköpfchen, kam Mika. Sie hatte gerade, hier in diesem Hotel, ein Date mit einem Kunden gehabt, und war nun sehr dankbar für einen Gin und Publikum für ihre Heldentaten.
Mika lächelte die unbekannte junge Frau an, die ich ihr als die Neue vorstellte. Sie begriff sofort. Bis heute war Mika die Neue gewesen. Jetzt war sie einen Veteranin. Und sie taxierte Luca mit wachem Blick. Hatte Luca das Zeug dazu? Die inneren Voraussetzungen? Sie will eine Hure werden, eine von uns. Um eine Hure zu werden, muss man bereits eine Hure sein. Mika war es mit der ganzen hochmütigen Verwegenheit ihrer 26 Jahre. Schließlich war sie bereits seit einem Vierteljahr dabei.
Mikas Gründe, sich als Escort zu bewerben, glichen denen der meisten. Die schiere Unmöglichkeit, über die Runden zu kommen ohne sich von einem Partner ode Familienbanden abhängig zu machen. In ihrem jungen Erwachsenenleben hatten sie nie in anderen Zeiten erlebt als Krisenzeiten. Ölkrise, Finanzkrise, Trump und Corona, Energiekrise und natürlich die Klimakrise, der permanente Weltuntergang. Aber eben auch das Wissen, dass es Profiteure der Krisen gibt. Man will sich das Geld dort holen, wo es ist. Selbst ist die Frau. Keine reichen Eltern, kein reicher Freund. „Besser so!, sagte Mika. Bloß keine Abhängigkeit.“
„Und warum nicht, warum denn auch nicht! Was war verdammt noch mal der Grund?“
Und Mika äffte die quäkende Stimme irgendeiner Politikerin nach: „Ein Körper ist keine Ware…“
„Diese Unwahrheit“, dozierte ich, „wird seit jeher um immer gerade dann postuliert, wenn der bürgerlichen Gesellschaft die Riemen des kapitalistischen Geschirres besonders stramm gezogen werden. Die Warenförmigkeit von allem und jedem soll gerade dort durch ein scheinheiliges Gebot gebannt sein, wo ausnahmsweise die Entfremdung zwischen Arbeitskraft und Kapital entfällt. Der Mensch darf seine Arbeitskraft für einen Hungerlohn verscheuern, aber er darf nicht sein eigenes Produktionsinstrument sein? August Bebel sprach es damals aus im Reichstag: Die Verhältnisse, die sind halt so!“
„Ist das nicht von Brecht?
Das ganze Lokal war voll aufgedonnerter Frauen. Aber diese Frauen waren keine Prostituierten. Der Beweis: die winzigen Handtäschchen. Eine Hure erkennt man an ihrer geräumigen Handtasche. Auch schon in den Zwanzigern: in den großen Stofftaschen verschwand die Alltagskleidung, wenn es nach der Arbeit ab ins Nachtleben ging. Und morgens verschwand darin das Flapperdress, wenn das Fräulein aus fremden Betten direkt zurück ins Büro eilen musste.
Wir drei echten Prostituierten waren der Tisch mit den am sittsamsten wirkenden Mädchen. Ich trug schwarzen Zwirn, geschäftsmäßig. Mika, die Gender-Studentin, ein weißes Herrenhemd und Pfeffer-und-Salz-Mantel. So hatte einen Mann zum Tier gemacht und buchstäblich an die Leine gelegt. Sie zog triumphierend die Lederleine nebst Halsband aus ihrer großen Handtasche. Und Luca schaute ihr aufmerksam zu, wie die Schülerin eines Eliteinternats, eine gelehrige Novizin. So brav, so durchtrieben. Da gab es für mich nichts weiter zu erziehen. Ich muss meinen Bewerberinnen nicht erst zu dem machen, was wir sind.
Ich zeigte auf eine Gruppe stark geschminkter Frauen in Minikleidern, die an uns vorbei staksten.
„Sie sind sexuell aufgeklärt, sie haben Ansprüche an die Männer. Sie wollen guten Sex, bestimmen, was im Bett passiert. Und sie wollen ihr eigenes Geld. Sie sind im Grunde genau solche Huren wie wir, aber sie haben Angst vor dem Stigma. Sie können das Patriarchat in sich noch immer nicht ausrotten. Deswegen hassen sie uns.“
Die Probe aufs Exempel
Er schwanzwedelte schon den ganzen Abend um uns herum, suchte Blickkontakt. Dieser junge Mann, mit der pompösen Rolex. Wir waren ihm aufgefallen. Jetzt saß er bei uns am Tisch. Er kam aus der Nähe von Frankfurt. Wie es ihm gefalle, in Berlin?
„Ach, Berlin ist nicht meine Stadt.“
„Wieso denn nicht, ist es dir zu dreckig?“
„Ich mag die Menschen hier nicht! Sie sind so direkt.“
So, so. Natürlich war er reich. Neureich, ein Tech-Millionär. Ich gab ihm die Karte meines Escortservice. Was denn sein Hotel sei? Doch statt uns Champagner auszugeben, beleidigte er uns durch seine feierliche Erklärung, dass er nicht für Sex bezahle und dass nur echte Gefühle für ihn zählten. Darum lebe er seit Jahren keusch… er sei zu sehr verletzt worden, sagte er, und warf Mika einen Mitleidheischenden Blick zu. Paradoxerweise erzählte er im Verlaufe des Abends auch noch, animiert von unserem Geplauder, er habe in seiner Villa einen voll ausgestatteten Folterkeller. Bei sich zu Hause im Taunus. „Wie machst du das, fragte ich ihn, wenn du seit Jahren keusch lebst, folterst du dich selbst?“
„Na klar tut er das“, sagte Mika frech.
Er musste quittieren, dass er bei Mika und mir keine Chancen hatte auf das, was er wollte – Gratissex, was sonst – wandte er sich Luca zu. Mit Interesse vernahm er meine Werbebotschaft, dass sie, dieses Rotkäppchen hier gerade erst Novizin sei, gerade erst ihr Bewerbungsgespräch erfolgreich absolviert hatte, und nun erst zur Hure gemacht werden sollte – vielleicht mit seiner Hilfe?
Luca hatte nichts dagegen.
„Aber natürlich mit Bezahlung, sonst wäre es ja keine richtige Prostitution!“
Er war verstimmt. Dass wir nur mit ihm spielten, begriff er nicht. Er folgte Luca in den Raucherbereich, und die beiden blieben eine Weile weg. Schließlich kam Luca allein zurück kam, schüttete sie sich aus vor Lachen.
„Stellt euch vor: er wollte mich retten!“
„Wollte er dich vom Wege abbringen, Rotkäppchen?“
„Er hat gesagt… Du bist marriage material!“
Heiratsmaterial! Nein, das wollten sie nicht sein.
Der junge Mann zog geschlagen davon. Berlin war wirklich nicht seine Stadt. Unser religions- und sittenloses Berlin, unser Berlin-bei-Nacht, das verruchte Berlin, das fetischbesessene Berlin, das unregierbare Berlin, das Berlin als Faled-State und Schreckensbild der Provinz, das Babylon-Berlin, das Du-bist-verrückt-mein-Kind-du-musst-nach-Berlin!-Berlin. Gelegentliche Hauptstadt der Gelegenheitsprostitution. Berlin, die Hurenmacherin.
Dieser Text wurde erstveröffentlich im B.History-Heft Nr. 7 des Berliner Verlags, erschienen am 7. 6. 2023, Berlin.