RAUFASERTAPETE

Ein Text von Lola Strawinsky über ihre erste Erfahrung als Sexarbeiterin – damals bei einer Schweizer Escort-Agentur. Seit 2019 ist Lola eine Hetäre von Hetaera Berlin.

 

 

Prolog. 2020. Berlin.

 

Näher kann ich dir nicht kommen.

Ich bade in dir wie in Wasser, tauche ein in dich und halte die Luft an, bis ich die Tür hinter mir zu mache und wieder allein bin. Das war er dann mein Rausch, mein Realitätsflash, meine Selbstaufgabe, meine Sucht nach Erkenntnis. Und dann geh ich wieder, wie eine Welle, die kurz da war und schon wieder verschwunden ist bevor man sie greifen kann.

Manchmal denke ich noch lange nach, über die Nacht oder die Stunden oder das Gefühl oder das Essen, das mir erklärt wurde und irgendwo aus der Region herkommt.

Manchmal vergesse ich alles sofort. Aber an meinen ersten Kunden erinnere ich mich wie an mein erstes Mal: Es gibt Besseres, aber ich bereue nichts.

 

 

Matthias. 2016. Zürich.

 

Es ist Sommer, irgendwann abends. Ca. 22 Uhr.

Meine Agentin hatte mir kurz zuvor geschrieben:

HELENA. DATE. JETZT. GEH AN DEIN HANDY.

Meine Agentin sind eigentlich zwei Agentinnen, und ich weiß nie, wer schreibt oder spricht. Eva oder Regula. Eva ist aus Wien und ist im Herzen eigentlich immer da geblieben. Sie hat kurze, dunkle Haare, sieht ein bisschen aus wie eine Kugel, ist ziemlich streng (vielleicht ist das auch der Dialekt.) und ziemlich cool. Sie raucht Vogue Zigarettchen und ihr dicker Hund hat tausend siffige Kuscheltiere und heißt Lady. Regula kommt aus der Schweiz, ist groß, sportlich, hat graue Haare und im Gegensatz zu Eva ordentlich Erfahrung als Sexarbeiterin. Und sie hat den taffsten Blick, den ich je gesehen hab.

Die nette Erinnerung hätte also von beiden kommen können.

Egal. Ich bin jetzt schon fast zu spät.

Also rauf aufs Rad, das mich sicher hin- und sicher zurück trägt. Um keinen Preis hätte ich mir ein Taxi genommen. Das ist übrigens bis heute so. Nur im Notfall verzichte ich auf die öffentlichen Verkehrsmittel nach einem Date. Nein, das ist mein Ding. Meine Nacht. Mein Geschäft. Und niemanden sonst geht es was an. Außer Regula und Eva.

Fünf Anrufe in Abwesenheit. Mist. Ah, Erleichterung, eine Nachricht:

HELENA. BIST DU SCHON DA??

Ich frage mich ob das so ein alte-Leute-Ding ist, das mit der durchgehenden Großschreibung.

Nach zehn Minuten bin ich dann jedenfalls da. Privatwohnung. Irgendwo beim Bellevue,

Zürich ist nicht so groß. Ich steige vom Fahrrad, schließe es an und lasse gleichzeitig irgendwas von mir da. Ich hab die geklaute Dior Sonnenbrille auf, einen fast zu kurzen Rock an, einen schwarzen Spitzen-Body und keine Unterwäsche, was echt ein komisches Gefühl war beim Fahrradfahren.

Aber das Wichtigste: Ich fühle mich wie eine Göttin, wie eine Gangsterbraut, wie Tom Cruise in allen seinen Mission-Impossible-Filmen, nur viel, viel geiler, weil ich eine verdammte Frau bin.

Und das steigert in den nächsten zwei Stunden meinen Wert wie in keinem anderen Beruf. Keinem.

Ich warte bis es Punkt 23 Uhr ist und klingle drei Mal. Die Tür summt nach ein paar zu vielen Sekunden, als hätte er sich extra Zeit gelassen. Als würde er beschäftigt sein. Als wären wir gute Freunde, die man warten lassen kann. Ich muss lachen, weil ich meinen ersten Kunden jetzt schon durchschaue, obwohl ich ihn nicht mal gesehen habe. Natürlich hat er in halbgeilem Zustand auf mich gewartet und, gespannt wie ein Bogen, auf dem Bett oder sonst wo gesessen. Hätte ich auch. Und klar, ich bin doch auch aufgeregt. Das hab ich ihm dann auch gesagt, in seinem Single-Haushalt eines Mitte 40ers, der irgendeinem Bürojob nachgeht.

Mein erstes Date ist also ein stinknormaler Mann. Nicht wirklich sportlich, nicht wirklich dick, Durchschnitt. Alles an ihm ist Durchschnitt. Aus seinen Augen schreit es DURCHSCHNITT.

Aber immerhin holt er sich ein Escort Girl, was ihn dann doch wieder interessant macht.

Seine Wohnung ist faszinierend unpersönlich eingerichtet, aber wer weiß, ob er wirklich hier lebt?

Das einzige Bild an der weißen Raufasertapetenwand ist eine schlecht ausgedruckte Kopie von Leonardo Di Caprio, die penibel akkurat mit vier Reiszwecken festgemacht ist. Es hängt direkt über dem Drucker auf einer komischen Höhe. Oh Gott, wie geschmacklos. An einer Wand stapeln sich DVDs in weißen Ikea-Regalen. Ich fange an zu verstehen, warum es Sexarbeit heißt, denn das was dieser Typ braucht, was so viele andere brauchen, und ich nehme mich da nicht aus, ist, loszulassen von der weißen Raufasertapete, von der alphabetisch geordneten DVD Sammlung, von dem Durschnittsschimmer in seinen Augen. Und ich glaube, deswegen bin ich da.

Auf einmal rieche ich Vanille, und sehe die Teelichter auf dem Boden, die er währenddessen angezündet hat. Und damit ist die Szenerie an Theatralik kaum zu übertreffen, und das freut mich ernsthaft. Matthias bietet mir Weißwein an, und wir setzen uns an seinen unpraktischen Stehtisch. Ja. Ein Stehtisch. Er macht Musik per Laptop an, Rihanna oder so. Die findet er cool. Dann redet er und hört irgendwie nicht auf. Er redet über Urlaub, über Arbeit, warum er Stammkunde bei meiner Agentur ist, über sein Faible für Waffen, über die neuesten Waffen, er lässt sich auf eine Diskussion über Waffen ein, und irgendwann sagt er völlig prompt:

Ja… wollen wir rüber gehen?

Und zeigt auf sein Bett.

Klar. Endlich. Ist ja auch kaum zu übersehen, mit den Teelichtern als Wegweiser.

Der Sex ist übrigens auch Durschnitt. Aber die Bezahlung eben nicht.

Als ich zwei Stunden später seine Wohnung verlasse, weht die kühle Nachtluft vom See zu mir rüber. Ich stöckle zu meinem Fahrrad und freue mich. Ich fühle mich immer noch mächtig. Und frei, vielleicht wegen dem Batzen Geld. Vielleicht, weil ich gehen kann und Matthias bleiben muss. In seiner Raufasertapetenwohnung mit Leo DiCaprio und der DVD-Sammlung. Das tut mir auf einmal irgendwie Leid, und ich glaube zu verstehen, wie wichtig die Aufmerksamkeit war, die ich ihm geschenkt habe.

Ich glaube, eigentlich bin ich zu Eva und Regula gegangen, weil ich nicht mehr Teil der durchschnittlichen, langweiligen Gesellschaft sein wollte. Im Endeffekt bin ich ihr an diesem Abend näher gekommen als je zuvor.

Nur, dass ich danach immer wieder frei bin. Naja. Fast.

3 Anrufe in Abwesenheit.

Eine Nachricht.

HELENA? ALLES GUT? WIE WARS? MELDE DICH! und drei Herzen.

 

 

Epilog. 2021. Berlin.

 

“The bright horses have broken free from the fields

They are horses of love, their manes full of fire

They are parting the cities, those bright burning horses

And everyone is hiding, and no one makes a sound

And I’m by your side and I’m holding your hand

Bright horses of wonder springing from your burning hand

And everyone has a heart and it’s calling for something

We’re all so sick and tired of seeing things as they are

Horses are just horses and their manes aren’t full of fire

The fields are just fields, and there ain’t no Lord

And everyone is hidden, and everyone is cruel

And there’s no shortage of tyrants, and no shortage of fools.”

 

*aus Bright Horses, Nick Cave and the Bad Seeds