Juliette Morrigán bucht einen Callboy

 

Noch zehn Minuten! Ich bewunderte mein neues Kleid im großen Spiegel des Hotelzimmers und spürte eine kribbelnde Aufregung. Ich hatte gerade getanzt. Ich liebe es, mich in einem schönen Hotelzimmer auszubreiten, den Raum zu erobern, meinen Körper durch Bewegung auf das Bevorstehende vorzubereiten. Ich schaute auf die Uhr – gleich würde er kommen. Vor einem Date bin ich immer aufgeregt aber dieses Date war ein ganz besonderes Date. Denn der Mann, den ich in meinem sexy Kleid erwartete, hatte nicht, wie sonst, mich gebucht, sondern andersrum, ich hatte ihn gebucht.

 

 

Wie es ist, als Frau Sex zu kaufen

 

Ich bin eine absolute Genießerin. Ich belohne und verwöhne mich gerne selbst und gönne mir mindestens zweimal im Monat eine ausgiebige Massage. Aber ein Callboy? Das war schon etwas anderes und ihn zu buchen, hat mich einiges an Überwindung gekostet. Ich lebe in Berlin, die sex-positivste Stadt Europas, wo ein potenzielles Date um jede Ecke lauert, wenn man es drauf anlegt. Für wunderbaren Sex bekomme ich sogar als Escort selbst ein Honorar. Wieso sollte also ich für Sex zahlen? Was wäre denn anders, wenn also ich und nicht er das Hotel, das Essen, den Champagner zahle und das Honorar für ihn selbstverständlich in einem offenen Umschlag bereitläge?

Nachdem ich verbindlich gebucht hatte, erwischte ich mich dabei, wie mir plötzlich und unerwartet all die klischeehaften Vorurteile durch den Kopf gingen, mit denen ich selbst als Sexarbeiterin öfters konfrontiert werde und die mich selbstverständlich sehr aufregen. Wird er Freude daran haben oder macht er das nur für Geld? Wird seine Lust echt sein oder wird er sie nur vortäuschen? Macht es ihm Spaß, wildfremde Frauen in Erregung zu bringen und vorher noch mit ihnen essen zu gehen?

Ich hatte ein längeres Date gebucht, damit ich beim kulinarischen Genuss mit ihm flirten konnte, bevor wir uns wieder ins Hotel zurückziehen würden. Ganz so, wie ich es mag, wenn jemand mit mir ein Date ausmacht. Jetzt war ich plötzlich unsicher. Wird er beim Austernschlürfen gelangweilt Small-Talk machen und dabei an etwas anderes denken, obwohl in seinem Profil steht, dass er gerne neue Menschen kennenlernt?

 

„Ich liebe meine Arbeit”, erzählte ich einer Kollegin. „Warum sollte es nicht bei ihm auch so sein? Und selbst wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Sexarbeit ist auch Arbeit und andere Berufe machen auch nicht jeden Tag Spaß.“

 

„Das sehe ich genauso,“ antwortete sie. „Aber ein schönes Hotelzimmer, ein schickes Restaurant und ein vierstündiges Date – du gönnst dir da was. Ich kann verstehen, dass du dir wünschst, dass er genauso authentisch ist wie du.“

 

„Hast du es auch schon mal gemacht?“ frage ich neugierig.

 

“Noch nie, obwohl ich auch schon öfters mit dem Gedanken gespielt habe,” gibt sie zu. „Jetzt bin ich sogar ein bisschen neidisch, dass du so mutig bist.“

 

 

Ein Tabu

 

„Wie würdest du es zu einem unvergesslichen Erlebnis machen?“ möchte ich wissen.

 

“Hmmm, bei der Arbeit bin ich normalerweise sehr kinky und aktiv.“ antwortete sie. „Vielleicht würde ich einfach Vanilla-Sex wollen. Oder ich würde „Starfishing“ ausprobieren. Auch wenn es sich wie ein Tabu anfühlt, geräuschlos und bewegungslos dazuliegen, während er sein Bestes gibt.“

 

Ich musste laut lachen bei der Vorstellung, sie wäre ein Starfish. Allein, weil es tabu ist, ist es wiederum kinky. Mir kam zugleich eine erotische Idee für ein Rollenspiel. Ob es bei meinem auserwählten Date möglich wäre? Ich hatte vergeblich versucht zwischen den Zeilen seines Profils herauszulesen, ob er eine verruchte Seite hat, aber er wirkte eher klassisch. Nun gut, es war schon aufregend genug – mein erstes Date mit einem Callboy.

 

Ich nahm noch einen tiefen Atemzug. Der Champagner stand im Eiskühler. Ich hatte sogar einen großen Blumenstrauß gekauft, um den schönen Raum noch stimmungsvoller zu machen. Ich hatte ihn gebeten, direkt hoch zu kommen und ich schaute ein letztes Mal auf die Uhr – und erschrak als es klopfte. Er war absolut pünktlich.

 

„Schön, dich endlich kennenzulernen,“ sagte er mit einem strahlenden Lächeln, als ich die Tür öffnete. Der erste Eindruck ist oft entscheidend. Ich war mir sicher, dies würde ein wunderbarer Abend werden.