von Mika Salaí

 

Ein Vermächtnis an meine Menschen da draußen. Mein verruchtes Herz dankt allen sieben Himmelsrichtungen, die mich zu euch geführt haben. Meine Heiligen werden auf ewig die Außenseiter sein. Ohne euch wäre die triviale Unlust unaushaltbar!

 

In meiner Jugend besuchte ich das katholische Gymnasium in einem verschwindend kleinen Dorf. Die Nonnen unterrichteten nicht länger an der ehemaligen Klosterschule und eine Gottesbraut erschien uns nur dann im Klassenzimmer, wenn der Lehrkräftemangel sich durch keine andere Vertretung weiter vertuschen ließ. Ein Pfarrer hielt wöchentlich Messen in der schuleigenen Kapelle, bei denen wir mit einer rund monatlichen Teilnahme glänzten. Während es sicherlich Institutionen gibt, die ihre Erziehung mit einer härteren Hand durchsetzen, halte ich ausgerechnet diese legere Beteiligung am Katholizismus für heimtückisch. Gar gefährlich für das eigene Seelenleben. Irgendwann stellst du nämlich fest, dass Himmel und Hölle gar nicht so klar voneinander zu trennen sind. Sie beide sind antagonistische Komplizen, die sich verlässlich die Hand reichen, wie Tag und Nacht es fortwährend tun. Oder CDU und AfD.

 

 

Die Sünde der Sünderin

 

Wenn ich heute danach gefragt werde, welchen Einfluss mein damaliges Umfeld auf mich hatte, insbesondere der obligatorische Religionsunterricht, werde ich triumphierend zum Propheten: Kennst du denn das Evangelium nach Lukas, Kapitel 7, Verse 36-50? Ich kann mir einen süffisanten Tonfall bei solch elitärer Blasphemie einfach nicht verkneifen. Diese eine meiner Geschichten beginnt beinah plakativ an einem heißen Nachmittag im Sommer; ich bin an einem Ort, der sich mit seiner Größe nicht mal die eigene Postleitzahl verdient hat. Aber das ist auch okay, schließlich gibt es bereits zu viele Grenzen in diesem Land. Ich kann heute noch die verbrauchte Luft in meiner Kehle schmecken und den Schweiß auf meinem Nacken spüren. Wir saßen im Unterricht und diskutierten über die Salbung Jesu durch die Sünderin. Wer war sie? Was hatte sie getan, das ihre Ächtung verlangte? Die Antwort darauf schien mir so offensichtlich, man könnte tatsächlich meinen, sie sei mir in die Wiege gelegt worden. Doch alle um mich herum waren ratlos und spannen wilde Theorien. Mord, Spionage oder vielleicht doch Hexerei? Möglicherweise galt ihr Verhalten nur als sündhaft, wenn es anhand altmodischer Werte bemessen wurde – Sex vor der Ehe wird heute schließlich in vielen katholischen Familien eher geduldet, als damals. Doch der Lehrer schloss all diese Optionen nacheinander aus. Sein stilles Beharren, dass er absolut alle, bis auf mich, zu Wort kommen ließe, mag anfangs noch didaktisch klug gewesen sein. Dann wurde es irgendwann absurd.

 

 

Das verruchte Wort

 

Der Lehrer sah sich damit konfrontiert, dass die einzige Person, die sein Rätsel hatte lösen können, keinesfalls zu scheu war, das Wort Hure in den Mund zu nehmen. Und das in seinen heiligen Hallen! Ich stellte mir vor, wie diese skandalöse Vorstellung ihn nach Hause begleitete. Wenn irgendwann die Chance bestanden hatte, ich würde es nicht wagen, vielleicht auch nur ihm zuliebe… sie war nun verloren. Nachdem er mich die letzten 90 Minuten provoziert hatte, würde ihm keine Gnade walten. Zu Recht, schmunzelte ich in mich hinein. Meine Freude war zwar diebisch, aber allzu ehrlich.

Die Frustration im Raum wuchs stetig und auf allen Seiten. Proportional dazu erschienen seine vier Wände immer enger, die stickige Luft immer schweißtreibender. Tease & Denial is all fun & games, bis eine sehr persönliche Grenze der Erträglichkeit überschritten wird. Danach verfärbt sich bereits der Ausblick auf Erlösung. Als sich die Unterrichtsstunde schließlich dem Ende neigte, hatten wir alle auf unsere eigene Art die Hoffnung aufgegeben.

 

 

Die verderbte Novizin

 

Warum thematisierte er diese Geschichte überhaupt, wenn er keinerlei Absicht hegte, über die politischen Zusammenhänge zu sprechen, die den sozialen Status der Sünderin als Sünderin verkündeten? Als ob eine Verknüpfung mit dem Katholizismus diese Klasse derart erzürnen würde, dass sie Meuterei beginge. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Aufstand ernsthaft befürchtete. Er musste mitbekommen haben, dass ich der reinen Seele neben mir verraten hatte, worum es bei dieser Rätselei ging. Hatte ihn meine Indiskretion etwa verärgert? Oder war die Vorsätzlichkeit meiner Formulierung ein Tabubruch zu viel im Klassenzimmer?

Dabei ist meine Verdorbenheit nicht so ansteckend, wie manch einer befürchtet. Zumindest lassen sich solche, die sie mit aufrichtigem Herzen ablehnen, nicht so einfach korrumpieren. Ich habe es bereits versucht. Mit solcher Ablehnung kann ich jedoch gut leben, denn sie verhält sich stillschweigend. Ihr treuer Gehorsam verursacht kein Leid, stattdessen halten sie einfach ihre Distanz. Sie begehen keine modernen Kreuzzüge, bei denen sie sich mit faschistischem Gedankengut vor Abtreibungskliniken postulieren. Das können nur Verlorene und die, die es noch nicht wissen.

 

 

Erleuchtung

 

Der Rest meiner weniger Mitstreitenden war zugleich zu aufgekratzt und zu erschöpft von der Hitze da draußen, um weiter über die fraglichen Abgründe dieser Unbekannten zu fantasieren. Sie waren gedanklich vermutlich schon bei dem Wassereis, das sie gleich im Schatten der Bäume genießen würden.

Ich glaubte nicht länger daran, meinesgleichen an diesem gottverlassenen Ort zu finden. Ihre Barmherzigkeit und Toleranz misst sich nicht an der Anzahl der Kreuze in jedem ihrer Räume. Egal, wie ich es betrachtete, wir konnten hier nicht beisammen sein. In meinem Paradies gibt es Inspiration im Überfluss, alle kriegen ein Glas oder besser gleich einen ganzen Krug. Wir ergötzen uns und sündigen miteinander, toasten zur Pracht unseres Lebens.

In einem flüchtigen Augenblick trafen unsere Geister sich über den Köpfen der anderen im Raum. Die sündhafte Vorstellung meiner Befreiung keimte in mir auf. Ich erkannte eine Möglichkeit, mich selbst und andere zu ermächtigen. Sehnsucht kann die Intensität meiner Gefühle damals nicht beschreiben, aber vielleicht fühlt sich so Erleuchtung an?