Hollydays in Marrakesh
Er war wie Phileas Fogg, und ich war sein Pagen-Mädchen Passepartout. A Gentleman travels in style, um das Organisatorische hatte ich mich zu kümmern. Er vertraute mir blind. Er war gewöhnt, sich dienstbaren Geistern anzuvertrauen – wer er war, dieser Kunde meiner Dienste, tut nichts zur Sache, aber bei unserem ersten Treffen in Berlin hatte ich diesen Ästheten geradezu berauscht mit meinem Spezialwissen, mit dem kein Travel & Leisure – Magazin mithalten kann, und als er mich fragte, wohin ich selbst am liebsten reisen würde – privat – sagte ich: Marrakesh!
Gut, dann plane uns beiden über Weihnachten einen Kurzurlaub. Sag mir nur, was es kostet, inklusive dir.
Es gibt Leute, die es sich ab und zu gönnen, mehrere Tausend Euro für eine Nacht inklusive Spesen auszugeben, und dann gibt es noch ein Klientel, für die es gar nichts Besonderes ist, sondern so, als würde man sich eine Kinokarte kaufen. Diese Leute buchen Escorts wie mich nicht nur für eine Nacht, sondern als Reisegesellschaft. Weil sie auf Reisen sowohl sexuell als auch kameradschaftlich unterhalten sein wollen. Mit einer Bekanntschaft aus dem privaten Umfeld aber sind solche Reisen ausgeschlossen, wenn man zwar Sex will, aber keinesfalls, dass sich die Urlaubsbegleitung Hoffnungen macht auf Heirat und Familienplanung. Also bleiben nur Escorts wie ich.
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Und unterm Strich sind wir Escorts wahrscheinlich deutlich billiger als eine Ehefrau oder Verlobte mit ihren Ansprüchen und Launen. So machte ich mich also an die Planung der Reise, und dachte z.B. nicht eine Sekunde daran, dass auch diese Planung ja eigentlich Arbeit ist, und extra bezahlt werden könnte. Sie werden das vielleicht nicht glauben, aber ab bestimmten Summen bekomme ich Panik und ein schlechtes Gewissen: ich möchte meine Kunden nicht abzocken. Ich habe da so ein linkes Legitimationsproblem. Er wollte das beste Hotel am Platz, First Class Tickets, Dinner in den hippsten Restaurants, Massagen im Hamam, Ausflüge und diverse Extras. Um die horrenden Kosten auszugleichen, versuchte ich, bei den Ausflugstrips günstige Möglichkeiten zu finden. In nächtelanger Internetrecherche fand ich ein erstaunlich preiswertes Angebot für eine Übernachtung in der Wüste, in Beduinenzelten – die Idee begeisterte ihn. Die Heilige Nacht unterm Sternenhimmel, am Lagerfeuer mit einer guten Flasche Whisky, und ohne Handyempfang! Ein Weihnachtstraum.
Nach einer atemberaubenden Fahrt durch die atemberaubenden Pässe und Schluchten des Atlas in unbeheiztem Bus ohne Federung, nach mehrmaligem Umsteigen an kärglichen Rastplätzen, wo es statt Toiletten nur bloße Löcher in der Erde gab und die feilgebotenen Schokoriegel und Softgetränke Namen von Marken trugen, die es schon gar nicht mehr existierten, hielten wir unvermittelt mitten im Niemandsland zwischen Geröllwüste und ersten Sanddünen. Am Straßenrand warteten traditionell gekleidete Berberhirten mit einer Herde Kamele. Endlich, dachte ich freudig, als ich die wunderschönen Tiere mit den großen Augen und langen Wimpern sah!
Aber der einstündige Kamelritt war für meinen Kunden eine Qual. Sein Kamelbulle, ein stolzes Tier, dessen starkes Rückgrat für das magere Hinterteil meines Phileas Fogg zu hart und sehr, sehr unbequem war, ungefähr wie eine Fahrradstange, auf der das Sitzpolster haltlos verrutschte, weil das störrischen Tier in einem fort ruckte, bockte und buckelte, bullerte und blökte, und dabei auch noch spuckte, fast wie ein Lama, es speichelte lange Fäden, ein Anblick, den der Orient wohlweislich vor dem Abendland geheim hält. Es war gar kein gutes Escort-Kamel. Es versuchte auch dauernd, auszuscheren, zu meiner sanften, weißen Kamelstute, die mich behutsam durch die Wüste schiffte, im weichen Wiegeschritt auf Pfoten weich wie Nachtfalter oder wie Cameltoe-Muschis. Zu allem Überfluss bekam der Bulle auch noch eine tierische Erektion, was den Berberhirten Ursache zu großen Gelächter gab, welches Phileas Fogg erst auf sich bezog, bis er den Grund verstand. Der ihm dann nur umso peinlicher war.
Und dann erst das Camp!
Wussten Sie, wie kalt eine Winternacht in der Sahara ist? Vier bis Fünf Grad. Ich hatte es mir nicht vorstellen können, wie kalt sich das tatsächlich anfühlt, und dass es in den Zelten, leider, keine Heizung gab. Es war da drinnen ebenso kalt wie draußen, oder sogar kälter, denn draußen gab es zumindest ein Feuer. Und auch sonst wich die Ausstattung des Camps, stark ab von den Fotos in der Onlinebroschüre. Es gab weder, wie versprochen, heiße Duschen (die Warmwasserleitung war angeblich versandet), noch Bettwäsche für die spartanischen Feldbetten, noch Privatsphäre. Wir kamen kurz vor Einbruch der Dunkelheit gemeinsam mit zwei Touristengruppen an, Abenteuerurlauber mit Wanderausrüstung, und hatten uns gleich Schulklassen auf Klassenfahrt, auf die Zelte aufzuteilen. Für die Trecking-Touristen eine gewohnte Übung, für mich hingegen eine herbe Enttäuschung, für meinen reichen Kunden aber, eine echte Demütigung. Noch nie in seinem ganzen Leben war er in einer solchen Lage gewesen, nichts hatte ihn auf so etwas vorbereitet. Und Schuld war ich! Meine Hemmungen vor galaktischen Budgets! Ach, hätte ich doch die teure Wüstensafari gebucht, die das Hotel für ein kleines Vermögen organisiert hätte. Dort gab es sicher Zelte mit eigenem Kamin und Jacuzzi! Mein Master Phileas Fogg hätte den Preisunterschied von ein paar Hundert Euro mehr doch gar nicht gespürt, die bitter Kälte hingegen, die bemerkte er allerdings. Und er war alles andere als bereit, eine solche Unannehmlichkeit hinzunehmen! Doch die nächste Siedlung, eine Karawanserei namens Zagora, lag eine Stunde Kamelritt und eine weitere mit dem Geländewagen entfernt, und wie sehr ich auch flehte und drohte und bestach, die Hirten waren nicht bereit, uns mit einem einzelnen der Tiere im Dunkeln zur Landstraße zurück zu bringen, wo übrigens auch kein Geländewagen auf uns wartete. Nicht mal einen Helikopter konnte man rufen hier, ohne Handyempfang! Um zurück zum Hotel zu fliegen, das man, nur mal nebenbei, auch für diese Nacht bezahlt hatte! Liebe Leser, schauen Sie sich das Royal Mansour Hotel in Marrakesch doch mal an, bzw. die Homepage, schauen Sie sich diese Hütte an und fallen Sie vom Glauben ab! Oh, den Hotel-Helikopter rufen zu können, der einen zurück brachte in die Üppigkeit der weichen Diwane mit den handbestickten Kissen, der beheizter Marmorfußböden und der Flachbildschirme, zu der westlichen Hegemonie der Weihnachtsdekoration in diesem orientalischen Palast, seiner Bar mit Blick auf den lichtergeschmückten Palmenhain, und mit dem genialen Jazzpianisten aus dem Kongo, der singt Let it snow, let it snow, let it snow! Jetzt putze Phileas Fogg sich missmutig die Zähne mit dem Rest in seiner Flasche Trinkwasser, mit seiner elektrischen Zahnbürste auf einem Hügel in der Sahara, bei Sonnenuntergang.
Mein demütiges Bemühen, Phileas Fogg an seinen Platz an der rauchfernen Seite des Feuers möglichst warm in die ungewaschenen Wolldecken zu wickeln, seinen schrecklich verspannten Rücken zu reiben, ihm noch einen zweiten Plastikbecher Pfefferminztee zu organisieren, wurden mit stoischem Schweigen beantwortet, Schweigen kälter als die Wüstennacht. Ich wärmte mich an Gedanken an Hotelzimmer, das uns bei unserer Rückkehr erwartete, wo ich hoffte, die Gnade meines Gebieters wieder aufzuwärmen, durch besondere Dienstbeflissenheit zwischen den Laken aus feinster ägyptischer Baumwolle, nach einem heißen Bad, nach einer Massage mit Huile d´Argan. Was nötig sein würde für seine Vergebung, war ein wahrer Gottesdienst! Als ich mit einem dritten Becher dampfendem Tee zu ihm kam, wandte er sich grußlos und ging ins Zelt. Ich folgte ihm zögernd, fragte, ob ich mich zu ihm legen und ihn wärmen sollte, denn ans Ausziehen, auch nur der Schuhe, war nicht zu denken, geschweige denn Sex. Er gab nur ein feindseliges Knurren von sich, und ich wagte keine weitere Interaktion. Also ging ich zum Feuer zurück.
Silent Overnight – holy Overnight
Am Feuer wachten die Berberjungs – so wie die Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Kameltreiber. Nomaden aus dem südlichen Vorgebirge des Atlas. Statt wie ihre Vorfahren die alte Handelsstraße mit der Karawane nach Timbuktu zu ziehen, verdienten sie heute ihr Geld mit den Touristen, die sie wenige Kilometer abseits der Fernstraße in den Wüstensand führten, wo sie im mittels eines Generators aus einer Autobatterie erzeugten Licht einer Neonröhre in einem Armeezelt Assietten mit Tajine austeilten. Und die Kanne süßen Pfefferminztee hing über dem Feuer. Für sie hatte das hier sicher wenig mit der Wüste zu tun, es war gerade so der Straßenrand. Eine ambitionslose Lüge für die Touristen, die so weit gereist, und trotzdem so leicht zu beeindrucken waren. Die Lieder, die sie uns grinsend vorsangen, beim Klang der Maultrommel, hatten sicher ihre ganz eigene Bedeutung. Das schloss ich aus den verderbten Blicken, die sie sich zuwarfen beim Singen.
Ich ließ die Whiskyflasche kreisen. In einer Pause, nach wohl einer halben Stunde, als den Kamelhirten, bzw. Touristenhirten nichts mehr einfiel, stimmte ich meinerseits ein Lied an. Ich sang Stille Nacht, heilige Nacht in dieser stillen heiligen Nacht… Und die vereinzelten Wanderfreunde am Feuer, die noch übrig waren, erkannten sofort die Melodie, und sangen mit in ihren Sprachen, Silent Night, Holy Night… Noche quieta, noche santa! Und sogar auf Koreanisch, Koyohan pam, Korukhan pam! (Ich gebe zu, den korrekten Text musste ich eben im Internet nachschlagen.) Da staunten unsere Hirten. Sie kannten das Lied nicht. Und sie stellten dieselbe Frage wie ich die ganzen Abend bei ihren (womöglich, nein, offensichtlich frivolen! ) Liedern, die sie mir nie beantwortetet hatten:
De qoui parle cette chanson?
Sie hatten die Geschichte wirklich noch nie gehört. Hätten sie es, hätten sie sicher stolz mit ihrem Wissen geprahlt. Aber sie wussten es nicht, wussten folglich auch nicht, dass heute Nacht die Weihnacht war!
Ignorante westliche Touristen glauben, es gibt auf der ganzen Welt kein Bergdorf, in das der Ruhm des Coca-Cola-Weihnachtsmanns, oder des Rabbis Josua von Nazareth noch nicht gedrungen ist. Aber südlich des hohen Atlas gibt es solche Dörfer noch. Kein Funk, kein Strom, nicht mal Zeitungen oder Bücher. Keine Bilder an der Wand, kein Fernsehen, und auch Telefon und Internet noch nicht. Kein Netz. Die Kinder lernen in der Schule Arabisch und Französisch, und ein wenig von der Weisheit des Koran. Manche Männer arbeiten über die Woche in den Städten schuften in Betrieben, als Kraftfahrer, oder in der ätzenden Hölle der Tanneries, der jahrhundertealten Gerbereien. Touristen sind Wesen aus einer anderen Welt. Marokko ist de facto ein geschlossenes Land, die Grenzen sind unüberwindlich für alle, die sich kein teures Visum leisten können, und die meisten Einwohner werden es mit hoher Wahrscheinlichkeit nie verlassen – ein Zugeständnis der Regierung an die EU, zur Unterbindung der Migration. Das Interesse verlagert sich sonderbar, wenn die Welt da draußen unerreichbar bleibt, das Wichtige und Unwichtige verschwimmt. Und wenn in den Städten die desperaten jungen Männer sieht (Jugendarbeitslosigkeit bei über 40%), versteht man sogar ein bisschen, dass auf den Verkauf von Haschisch, einst die Attraktion Marokkos, heute die Todesstrafe steht. Nördlich von Marrakesch ist das Hauptanbaugebiet. Wenn die Kinder der Berber Haschisch rauchen dürften, drohte der Verlust einer ganzen Generation an die Fluchten des Rausches. Auch Alkoholausschank ist nur mit einer utopisch teuren Konzession gestattet, die sich nur Luxushotels leisten können.
Flüchtig streifte mich der Gedanke, mit dem Anführer dieser Jungs, oder auch allen dreien, Sex zu haben, und wie es wohl wäre. Sicher waren sie alle noch unberührt, hatten aufgrund ihres geringen Einkommens kaum Aussicht auf eine Heirat, und ohne Heirat in diesem Land absolut gar keine Aussicht auf Sex, es sei denn als Lustknaben reicher schwuler Marokko-Reisender, wie Yves Saint-Laurent seinerzeit… hatte ich nicht im Flugzeug schon diese Bemerkung eines rüstigen Greises aufgeschnappt, diese Straßenkinder, für eine Hand voll Bonbons folgen sie dir überall hin! – mir, einer jungen Frau, würden sie doch zu Füßen liegen! Aber ich verwarf den Gedanken. Einfach zu kalt. Sorry.
Ich ließ die Whiskyflasche nochmal rumgehen. Genau solche Hirten wie ihr waren es, denen der Engel erschien! Sie waren die ersten, die es erfuhren! Der Sohn Gottes wurde geboren in einem Stall!
Einem Stall?! Stellte Mohammed, der Führer der Gruppe, auf Französisch klar, um sich zu vergewissern, dass er es korrekt verstanden hatte.
In einem Stall! Die Tiere waren auch da, der Esel, der Ochse. Die wärmten ihn vielleicht… Ich zog die Decke fester um mich.
Gab es auch ein Kamel? Fragte sein Kollege, scherzhaft. Ich wusste es nicht, woher auch, wollte ihn aber nicht enttäuschen: Ja, sicher, ein Kamel gab es auch! Und das Kind lag in der Krippe! Dans la crèche!
Mohammed riss die Augen auf: Dans la crèche? In der Futterkrippe?!
Oui, oui!
Et… les animaux… der Kleinste der drei wand sich aufgekratzt, stieß seine Kumpanen Beifall heischend an:
Les animaux l´ont mangé? Und haben die Tiere ihn aufgefressen?
Die drei brachen in schallendes Gelächter aus. Sie lachten! Anscheinend war ich nicht sonderlich überzeugend als Erzengel Raphael. Kein Wunder: das letzte Mal, als ich Flügel umgeschnallt hatte, trug ich sonst nichts außer Glitzerpuder und Highheels, und verteilte Süßigkeiten im Insomnia, diesem Swinger Club in Tempelhof.
Die Hirten lachten. Von wegen Fürchtet euch nicht, siehe ich verkündige euch eine große Freude. Sie hielten es für einen Witz! Sie glaubten kein Wort von der Geschichte, taten sie ab als bizarr und absurd.
Sie dachten wohl, ich verhöhnte sie in ihrer Unterprivilegiertheit. Und hatte ich das nicht getan? Hört sich die Weihnachtsgeschichte nicht genauso an, für unzählige Menschen auf der Erde, die keine Hoffnung haben: wie eine Demütigung? Warum sollte ausgerechnet der Gott der Reichen in ihrer Welt geboren sein.
Ich legte den Kopf zurück und sah hinauf zu den Weihnachtssternen.
Zu den Sternen.
Dieser Text erschien unter dem Titel “Das Lachen der Hirten” am 23.12. 2020 in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung.
Hallo Salomé, was wurde denn aus deime Begleiter? Deinem Gönner.
Pssst! Diskretion…