von Salomé Balthus

 

Ein Besuch in Paris

 

 

 

 

Wie romantisch!

 

Da liegt sie: eine tote Prostituierte.

Auf dem Friedhof von Montmartre, im Spätherbst. Verwitterte Grabsteine, kahle Bäume im Nebel, Krähen scharren in welkem Laub, die Dämmerung ist angebrochen… morbide Romantik – so habe ich mir das vorgestellt.

Ich habe Blumen dabei. Leider keine Kamelien, obwohl ich mehrere Floristen in Paris angeschrieben hatte. Immerhin, weiße Lilien. Für meine Kollegin, vor deren Grabstätte ich stehe. Gestorben an Tuberkulose, mit nur dreiundzwanzig Jahren. Alphonsine Plessis, wie auf dem Stein steht. Alias: Marie Duplessis Alias: Die Kameliendame. Die Violetta aus La Traviata.

Ich habe nicht viel Zeit. Auf mich wartet ein Kunde. Es ist Freitagabend. Das ganze Wochenende hat er mich gebucht, im Ritz. Ich habe nur rasch diesen Stopp eingelegt auf der Fahrt zwischen Flughafen und Hotel, um der berühmten Kollegin meine Reference zu machen. Der vielleicht berühmteste Kurtisane der Welt. Jedenfalls der beliebtesten.

Das hat sie Alexandre Dumas, dem Sohn, zu verdanken, der auch hier irgendwo liegt, auf dem Cimetière Montmarte. Er ist ihr  begegnet, und hat diese einschneidende Erfahrung in einem Roman verarbeitet, den er kurz nach ihrem Tod veröffentlichte – sein berühmtestes Werk. Der Roman, und die wenige Jahre spätere Adaption als Theaterstück ein grandioser Erfolg, so wie auch die Verdi-Oper wenige Jahre später. Obwohl Dumas noch viele Jahre publizierte, erreichte keines seiner Werke auch nur annähernd den Ruhm dieser Geschichte, die, wie im Text behauptet wird, wahr ist. Die Geschichte der Kurtisane, die ihr verworfenes Leben aufgeben will für die  romantische Liebe, und dann brutal zurück gestoßen wird in ihre Verhältnisse. Marguerite Gautier – so nennt Dumas seine Heldin – liebt Armand Duval –  so nennt er sich selbst, unschwer zu erkennen an den Initialen. Doch dann tritt Vater Duval auf den Plan. Er sucht die Kurtisane heimlich auf, und überzeugt sie, diese Liebe aufzugeben – ihre Vergangenheit ist ein zu großer Makel, die Familienehre steht auf dem Spiel. Sie soll Armand vorspielen, dass sie ihn nicht mehr liebe, soll die zynische Luxushure spielen, um ihn zu überzeugen. Marguerite bringt dieses heroische Opfer, und erliegt bald darauf der Schwindsucht. Allerdings suggeriert der Dumas, dass die Krankheit erst durch den Liebeskummer so erbarmungslos fortschritt. Ein Liebestod also. Ein Liebestod, oder Liebesfreitod ist der Anspruch an eine romantische Heldin. Darum allein ist sie so überaus beliebt. Roman und Oper feiern die erbauliche Legende von der Läuterung einer Hure durch Liebe und Tod. Nur eine leidende Hure, eine sterbende Hure ist eine gute Hure. Nur dann kann sie von einem Massenpublikum geliebt werden.

 

Das romantische Ideal der Frau besteht in der Eliminierung weiblicher Exzentrik: Siehe Schwanensee, siehe Giselle. Eine irgendwie mystische, archaische Frauengestalt verführt einen einfältigen Jüngling zur Liebe, einer gefährlichen, unmöglichen Liebe – und opfert sich anschließend für diese Liebe, geht für ihn in den Tod, und zwar freiwillig. Sie zahlt den Preis. Der Jüngling indes reift durch dieses Liebesopfer zum Mann.

(In der wirklichen Welt fanden damals Jünglinge, die männliche Reife erlangen wollten, ihre opferbereiten Frauen im Bordell.)

 

 

 

Reality Check

 

Ich stehe vor Marie Duplessis echtem Grab, wo ihre echten Gebeine ruhen. Ich wüsste gern, was sie selbst über diese Geschichte gedacht hätte, die sie unsterblich gemacht hat. Denn ich, als erfahrene Kollegin, spüre ein gewisses Unbehagen an der romantischen Verklärung.

Kann ich, die ich dasselbe Gewerbe ausübe, mir ein tieferes Verständnis anmaßen? Ich bin doch in so ähnlichen Situationen, ich habe reiche Verehrer, darunter ein paar, die mich regelrecht aushalten, und darum mehr Rechte haben als andere, weniger finanziell engagierte. Ich muss ständig neue Kunden finden, und ich mache Schulden, so wie sie, weil die Aufwendungen für die Schönheit einer Luxusprostituierten hoch sind, und wir doch nie so viel haben wie die Gattinnen der Reichen, denen wir gefallen müssen. Ich kenne die komplizierten Beziehungen, die man zu den Kunden eingeht, denen man etwas anderes verkauft als schnöden Sex. Das tägliche, nächtliche, nie aufhörende Jonglieren mit Männeregos, die Aufmerksamkeit brauchen. Und dann noch diejenigen, die sich tatsächlich verlieben. In einen Kunden verlieben – könnte ich das? Und dann die, die gar keine Kunden sein wollen, die auch gar nicht das Geld haben, aber es ausnutzen, dass es so leicht ist, mit Frauen wie mir in Kontakt zu treten, wir sind ja so zugänglich. Diese sind mir am unangenehmsten, wenn sie sich meine Nähe erschleichen.

Hat die real existierende Marie Duplessis, wohnhaft am Boulevard de la Madeleine Nummer 11, sich wirklich in den gleichaltrigen Dumas verliebt? Und ihm dann vorgemacht, sie liebe ihn nicht mehr, aus Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung?

Marie war ja tatsächlich schon zu Lebzeiten berühmt, ist eine Person der Zeitgeschichte. Eine Frau, die Leute gekannt hat. Noch andere außer dem Schriftsteller Dumas-fils, der die so für sich vereinnahmte. Jules Janin, der Literaturkritiker des Journal des débats. Théophile Gautier – und zwar genau zu der Zeit, als er am Libretto schrieb von Giselle, das ihn berühmt mache.

Und Franz Liszt, mit dem sie eng befreundet war, und der ihrem Tod nachrief:

Arme Mariette Duplessis! Denke ich an sie, erklingt in meinem Herzen ein geheimnisvoller Akkord einer antiken Elegie.

Und da der junge Dumas. Er war mit ihr bekannt. War vielleicht sogar ihr Kunde, oder sie ließ ihn ohne Bezahlung gewähren, aus einer Laune heraus. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht war seine Liebe auch bloß unerhörte Anbetung. Dieser Sohn-von, im Schatten des berühmten Vaters. In den ehrgeizigen Anfängen seiner Dichterkarriere. Natürlich lässt er keinen dieser prominenten Zeitgenossen in seinem Roman auftauchen. Ein frühes Zugeständnis an das Persönlichkeitsrecht? Wohl kaum. Solche komplexen sozialen Beziehungen störten bloß in der schlichten Liebesgeschichte.

 

 

 

Die Rolle des Vaters

 

Doch eines ist sicher: Alexandre Dumas ist nicht, wie seine Hauptfigur Armand Duval, der Sohn eines Biedermannes, der um die gesellschaftliche Stellung seines Sohnes fürchtet, wenn er sich auf die Liaison mit einer Kurtisane einlässt. Er ist der uneheliche Sohn des Schriftstellers Alexandre Dumas (des Älteren), damals bereits ein Erfolgsautor, politisch links, ein Anhänger der Französischen Revolution. Und Person of Colour. Die Vorgeschichte ist prägend: Der Großvater, ein Marquis Alexandre Davy de la Pailleterie, hatte auf der haitianischen Plantage seines Bruders die schwarze Sklavin Marie-Césette Dumas – ihr Name ist es, der heute im Panthéon geehrt wird – mehrfach vergewaltigt, und so mehrere Kinder gezeugt. Den ältesten, Thomas-Alexandre, nahm er als legitimen Sohn an, und holte ihn, einen 13-jährigen, nach Frankreich, während die Mutter, sowie die Geschwister weiterhin Sklaven blieben, als Sklaven starben. Dieser Thomas, eine begreiflicherweise widerspenstige Natur, brach mit dem Vater, schlug sich als Dragoner durch, heiratete eine einfache Gastwirtstochter, fiel bei Napoleon Bonaparte in Ungnade, desertierte, geriet wiederum in Gefangenschaft. Das Adelsprädikat, das ihm als Sohn eines Marquis zustand, hat er kaum verwendet. Er hatte mit der französischen Gesellschaft wohl nicht viel zu schaffen.

Sein Sohn, Alexandre Dumas der Ältere, wurde Autor der großen historischen Romane über die französische Geschichte, hatte von Kindheit an also weder Standesdünkel noch Illusionen über das Wesen der imperialistischen Kolonialmacht. Vielmehr einen Sinn für die Randgestalten und Opfer der bürgerlichen Gesellschaft, deren Reichtum auf Sklaverei und Ausbeutung gegründet ist. Follow the money! Die subversiven Gestalten der Kurtisanen hatten gewiss seine heimliche Sympathie. Sollte Alexandre Dumas der Jüngere wirklich eine Liebesaffaire mit der Kameliendame gehabt haben, so war sicher nicht der moralische Druck von Seiten des Vaters der Grund für die Trennung. Damit aber fällt das ganze Konstrukt des heroischen Opfers in sich zusammen.

 

 

Lügen machen weiße Zähne

 

Es ist halt ein Roman, ein Roman mit dichterischen Freiheiten. Was heißt schon wahr, in der Literatur?

Was aber ist die Wahrheit dieser Frau, die es gab, und vor deren Grab ich stehe? Interessiert das überhaupt irgendwen außer mir?

Ich hatte auch mal einen dieser lästigen Verehrer, der hatte schriftstellerische Ambitionen. Er hatte mich zwei, drei Mal gesehen. Das erste Mal über eine Agentur. Damals kostete ich noch weniger. Einmal war es sogar im Bordell, wo ich in einer frühen Phase echter Geldnot ein paar Mal anzutreffen war. Er nutzte es weidlich aus. Seit diesem Zeitpunkt schrieb er mir Liebesbriefe, die ich ernst höflich, dann gar nicht mehr beantwortete. Er hörte nicht auf. Er stalkte mich eine Zeit lang. Dann wurde es still, und dann hatte er plötzlich ein Romanmanuskript verfasst, in der Hauptrolle eine Frau meines Namens, die mit mir wenig gemeinsam hatte. Ich glaube, er hat es nie veröffentlicht. Wäre ich nun gestorben, und er wäre dann diesen pseudo-intimen Tatsachenroman groß heraus gekommen  – dann würde diese Phantasie verletzten männlichen Stolzes mein Bild für alle Zeiten definieren.

Als Prostituierte kenne ich die Situation, nicht mitreden zu dürfen, wenn es um mein eigenes Schicksal geht. Selbst keine Stimme zu haben, keine Deutungshoheit über das eigene Leben. Stört es wirklich niemanden, dass Marie Duplessis vielleicht absichtlich grob verzeichnet wurde? Nicht nur idealisiert, romantisiert, sondern missbraucht? Dass da etwas aus ihr gemacht hat, was sie weder war, noch sein wollte? Man stelle sich nur einmal die Möglichkeit vor, dass Marie, die so viele interessante Männer kannte, diesen jungen Ehrgeizling eben nicht liebte. Oder jedenfalls nicht so sehr,  wie er es sich wünschte. Wir Huren kennen alle diese Möchtegern-Freier, dieses Fans mit zu wenig Geld, die meinen, dass das Objekt seiner Begierde ihnen Gegenliebe einfach schuldig sei. Hat Alexandre Dumas aus einer emanzipierten Frau ein romantisches Liebesopfer gemacht? Zum Beispiel, weil es einfach die bessere Story war? Oder gar aus männlicher Liebeseitelkeit? Dumas-fils, der doch mit seinem Werk so emphatisch für die weibliche Perspektive eintrat. Wenn man an die Stellen im Roman denkt, wo er sich auslässt in den Details ihres Liebesleids, ihres qualvollen Todeskampfes, das lange Delirium der einsam Sterbenden – kein gekränkter abgewiesener Freier könnte sich genüsslichere Rachephantasien ausmalen.

Ich lege die Blumen auf den Stein und trauere um meine Kollegin, die so berühmt ist, aber nie für sich selbst Zeugnis ablegen konnte. Ihre Stimme existiert nicht, bis auf ein paar wenige, unbelegte Zitate, deren Zusammenhang unklar ist. Zum Beispiel soll sie gesagt haben:

Lügen machen weiße Zähne.

 

 

Nicht weiter tragisch

 

Am nächsten Morgen, nach einem ausgedehnten petit déjeuner au lit im Ritz, ein  Spaziergang mit meinem Kunden, der mich untergehakt hat, um mir den  Gang in den Highheels zu erleichtern, die ich für ihn angezogen habe.  Shopping in der Rue St. Honoré, auf dem Weg zu den Champs Élisées, geht er im Maxim‘s vorbei, nachfragen wegen der Reservierung für den Abend. Er will den Platz persönlich aussuchen, ein verstecktes Eckchen zum Fummeln, oder ein Angeberplatz auf dem Präsentierteller, was auch immer. All das sieht aus, als wäre es ungefähr der Alltag der Kurtisanen vor zwei Jahrhunderten mit zeitgenössischen Mitteln. Aber der Unterschied könnte größer nicht sein: meine Tätigkeit ist legal, ich habe Rechte, habe zumindest theoretisch den Staat auf meiner Seite. Noch. Die Zeiten ändern sich womöglich gerade, und nirgends sieht man diese Tendenzen so schnell und deutlich wie im Umgang mit Prostituierten.

Ich gehe in meinen Stöckelschuhen langsam ein paar Schritte voraus,  auf den Place de la Concorde. Zeit für einen kurzen Anruf bei meinem Freund. Mein Freund ist nicht die Spur eifersüchtig auf meine Kunden. Sein Selbstbewusstsein ist intakt. Er ist nicht so ein Armand Duval.

 

  • Kurzes Lebenszeichen! Ich habe ungefähr drei Minuten!

  • Wie macht er sich?

  • Brav! Er macht gerade für heute Abend einen Tisch klar in diesem Luxustempel Maxim‘s.

  • Das war doch das Lieblingslokal von Albert Speer!

  • Was soll man machen! Ich stehe gerade genau da, wo die Guillotine stand, und sehe auf diese klassischen Fassaden, das letzte, was die Leute sahen, bevor sie die Augen verbunden bekamen, und denke mir: das kommt davon, wenn man die Schrift an der Wand nicht liest, wenn man taub ist für den Pulsschlag der Geschichte…

  • Das hat Brecht in seinem Arbeitsjournal so nett kommentiert: Den Aristokraten stand noch der Schwanz, als ihnen der Kopf abgeschlagen wurde!

  • A propos Schwanz: da hinten kommt er, ich muss auflegen!

 

Er eilt mir freudig entgegen, küsst mich ab, schon wieder erregt. Ich sage zu ihm:

 

  • Hier stand übrigens die Guillotine während der französischen Revolution. Brecht in seinem Arbeitsjournal schrieb dazu: den Aristokraten stand noch der Schwanz, als ihnen der Kopf abgeschlagen wurde!

  • Würde mir jetzt der Kopf abgeschlagen, würde mir auch noch der Schwanz stehen!

 

Ich muss sehr lachen.

Auf der Brücke steht ein Straßenmusiker mit Akkordeon, und spielt ausgerechnet Edith Piafs Chanson L’accordéoniste – das Lied des Straßenmädchens, das mit einem Akkordeonisten lebt, für ihn anschaffen geht, und so verliebt ist in seine schlanken, trockenen Künstlerfinger. Dabei denke ich unwillkürlich an meinen Freund, und bekomme ein bisschen Sehnsucht. Auch dieses Chanson endet natürlich traurig. Ich aber weigere mich unterzugehen, nur um die allgemeine kognitive Dissonanz zu sühnen. Noch eine Nacht mit diesem Mann hier, der mich untergehakt hat und meine Einkaufstüten trägt, dann zurück nach Berlin, in meine Stadt der Liebe. Aber auf diese Nacht in Paris freue ich mich auch, und darauf, mich wie eine große Kurtisane zu fühlen. Ich komme zurecht. Ich lebe unverschämt weiter.

 

 

 

 

  • Theater-Empfehlung:

Eine Neuinszenierung der besonderern Art. “La Traviata – eine Auferstehung” von Kerstin Steeb. Mit Texten von Salomé Balthus (Sound-Collagen von Dong Zhou und Henning Sommer). Noch bis März 2025 am Theater Lüneburg.