Sexpartys, Dekadenz und die Lust am Untergang

 

 

 

 

 

Nein, es ist gerade nicht Party Time, selbstverständlich, es ist der Winter 2021. Statt mir auf einer illegalen Kellerparty irgendwas einzufangen, warte ich stoisch auf das Ende der Pandemie, das gewiss ist, egal wie planlos unsere Regierung sich verhält. Ich habe auf der Reise durch den Corona-Tunnel längst auf Autopilot gestellt und versuche geduldig, mich abzulenken. Das Leben aus der kulturellen Konserve führt zu verstärktem Medienkonsum, und beim Durchstöbern von Netflix stellte ich entzückt fest, dass es dort jetzt den großartigen Film Loro von Paolo Sorrentino gibt!

 

 

 

Verklungene Feste

 

Was mich an diesem Film besonders fasziniert ist nicht so sehr die geniale Charakterisierung von Silvio Berlusconi, sondern das Phänomen der Party-Girls auf den Bunga-Bunga-Partys. Jene Partys, die im Geheimen stattfanden, wo die Machtclique um Berlusconi und seine Günstlinge ganz unter sich sein wollte, und  ausschließlich sehr junge, hübsche Frauen dazu einlud, die sich von ihrer Anwesenheit auf solchen Festivitäten verschiedenste Vorteile erhofften – ohne sicher sein zu können, sie auch zu erhalten. Frauen, die sich wie Klischee-Huren verhielten, aber keine sein wollen, auch nicht als solche bezahlt wurden, aber dennoch alles taten, was von ihnen erwartet wurde, inklusive die Erzeugung der Illusion von Freiwilligkeit. Es ist die Charakterisierung eines Kultur- bzw. Medienbetriebs,  in dem es keinen anderen Weg nach oben gibt als via Sex und Verfügbarkeit. Es scheint so normal, es scheint gar nichts anderes zu geben. Eine durch und durch verhurte Gesellschaft, die gewerbliche Prostitution zugleich verabscheute – vielleicht aus Panik vor der Ähnlichkeit, davor, den Spiegel vorgehalten zu bekommen.

Solche verhurten Gesellschaften sind ein wiederkehrendes Phänomen. Ich habe das auch bemerkt, als ich in meiner Abgeschiedenheit einen Kurtisanen-Adventskalender auf Twitter gemacht habe, mit 24 berühmten historischen Kurtisanen: es gab bestimmte historische Epochen, in denen sich Macht und Promiskuität besonders häufig begegneten, in denen es besonders zahlreiche Kurtisanen gab, weil die Schwelle zur Prostitution so gering war. Eine zum Beispiel war das Cinquecento/ 16. Jahrhundert in den Zentren der italienischen Renaissance. Dort begegnen uns Frauengestalten, die noch hundert Jahre davor und schon hundert Jahre danach undenkbar gewesen wären, Frauen wie Giulia Farnese, Tullia d´Arragonza, Imperia Cognata oder Veronica Franco, die es mit Patriziern, Königen,  Kardinälen und Borgia-Päpsten krachen ließen auf Festen, von deren hedonistischem Extremismus wir uns kaum einen Begriff machen können – und die zugleich die gebildetsten und emanzipiertesten Frauen ihrer Zeit waren.

Eine andere solche Party-Time war die rund sechzigjährige Phase der Pariser Maisons à Partie, der Salons der Kurtisanen der im Frankreich des 2. Kaiserreiches, der Belle Époque: Hier tauchen Frauen auf wie Marie Duplessis (“Die Kameliendame”), Cora Pearl, Marguerite Bellanger (Mätresse Napoleons III. und Modell für Manets „Olympia“), Valtesse de la Bigne („Nana“), Caroline “La Belle” Otéro,  und zu allererst die Marquise de Païva, die spätere Pauline Reichsgräfin Henckel von Donnersmarck – an diesen Titeln kann man schon den Aufstieg des Mädchens, das einmal als Esther Lachmann aus dem Moskauer Ghetto kam, zu einer Herrscherin über die Crème der Pariser Gesellschaft ablesen, der nur zu bestimmten historischen Phasen so möglich war. Heute wäre er es nicht.

 

 

 

Dekadenz, dekonstruiert

 

Was sind die Voraussetzungen für eine solche Verhurung der Gesellschaft, die inneren und äußeren Bedingungen?

Erstens, die Emanzipation muss so weit fortgeschritten sein, dass es für Männer nicht mehr erlaubt ist, sich Sex einfach zu nehmen, Vergewaltigung und Frauenraub muss gesellschaftlich geächtet sein, das aufwändige Werben um die Gunst einer Dame hingegen, auch mit Geld, ehrenhaft. Die Gesellschaft muss insgesamt soweit liberal oder säkularisiert sein, dass sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe nicht umgehend mit dem Tode oder der Verbannung der Beteiligten bestraft werden, eine gewisse Toleranz gegenüber dem Unvermeidlichen muss herrschen, auch und gerade, wenn Mitglieder der höheren Stände involviert sind.

Zweitens, Geld muss vorhanden sein, viel Geld, und zwar in den Händen einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht: Einer rationalen Gesellschaftsschicht, selbstbewusst, aber ohne große gesamtgesellschaftliche Ambitionen, ohne fernhistorische Ziele, ohne Utopien und Ideale, ohne Illusionen. Ein Establishment von Erben und Neureichen, durch deren innere Verfassung irgendwie ein Bruch, eine Desillusionierung gegangen ist, die sich vom Staate nicht viel mehr erhoffen als lediglich Machterhalt, und von ihrer Macht nicht mehr als ungestörtes sinnliches Vergnügen. Man lasse sich von der ehrgeizigen Machtpolitik und überbordenden Vergnügungssucht nicht täuschen, beides sind Symptome schwärzester Depression. Statt danach zu trachten, durch religiösen Eifer ein Himmelreich zu gewinnen oder durch heldenhafte Taten einen Platz in der Geschichte, bleibt nur der bescheidene Wunsch der Fristung ihres Erdendaseins in Wollust: das Leben als „nichts als eine möglichst fette Henkersmahlzeit“ (Egon Friedell).

 

 

 

Promiskuität als Subversion

 

Dass diese Leute dekadent sind, und von den machtlosen, aber relativ emanzipierten Frauen weder geliebt, noch um ihrer selbst willen begehrt werden können, liegt auf der Hand. Gleichwohl kann man sie nicht ignorieren oder besiegen. Sie klammern sie an alle Ressourcen der Macht mit besonderer Besessenheit. Es ist unmöglich, sie durch Vernunft zur Gerechtigkeit zu bewegen. Es hat aber auch keinen Sinn, sie offen anzugreifen. Also bleibt nur das Mittel der Subversion, um ihnen etwas Freiheit und Lebensmöglichkeit abzuringen. Wo männliche Emporkömmlinge schmeicheln und intrigieren, nutzten Frauen das Phänomen der sexuellen Begierde, die, ungehemmt von heiliger Scheu und innerem Anstand, völlig kopflos und übermächtig sich Bahn bricht. Die Lust dieser Machtelite ist dabei alles anders als naiv und banal, sie ist in ihrem tiefsten Grund die Lust am Untergang. Lust ist – tendenziell – immer auch die Lust am Untergang, an der Vernichtung des Ichs und Über-Ichs, der Persönlichkeit. Denn wahre Lust hat immer den Hang zur Verabsolutierung, danach, alles in der Welt zu erotisieren, zum Mittel der Geilheit zu machen, oder es ist keine echte Lust. Absolute Lust ist ihrem Wesen nach unmenschlich, will sagen: jenseits von Mitleid. Wenn die Machtelite regiert wird von ihren Trieben, dann können diese Triebe regiert werden von klugen Frauen. Deren einziger, aber entscheidender Vorteil ist, weniger blinde Geilheit, auch Machtgeilheit zu empfinden als die Männer, und darum vernünftiger, menschlicher zu sein. Ein brandgefährliches Spiel.

Die Bunga-Bunga-Mädchen in Sorrentinos Loro sind keine Dummchen, sie tun nur so, und sie tun es, weil sie wissen, dass sie in Berlusconis Regime keine faire Chance haben auf eine Schauspiel- oder Fernsehkarriere. Aber auch die Chance auf dauerhafte Protektion ist eine Illusion, die grausam bestraft wird.

 

Das trostlose Corona-Berlin schwelgt gern in den Erinnerungen an seine letzte verhurte Gesellschaft, in den letzten 20er Jahren. Da gab es doch die legendären Film-Partys in Grunewaldvillen, die Partys des verruchten „Bock von Babelsberg“, eines gewissen Goebbels. Aus dieser Partyszene stammt die Figur der Speedy im Gleichnamigen Roman meines Freundes Florian Havemann. Der Roman spielt sowohl in den 20er Jahren als auch in der Nazi-Zeit, wo die große Party beendet wird durch die Nazis. Speedy, das ehemalige Partygirl, will ihren Mann beschützen, den neu-sachlichen Maler Rudolf Schlichter (im Roman heißt er Schlechter) und irgendwie das gemeinsame Heim, sein Atelier halten, damit er malen kann. Dafür sorgen, dass der Mann nicht aus Angst vor politischer Verfolgung durchdreht. Sie tut dies, indem sie nun gezielt mit reichen und einflussreichen Männern schläft, sich von diesen aushalten lässt, und durchaus nicht ohne eigene Lust und wagemutiges Vergnügen dabei.

Es gibt die Chance, die Prostitution für die Macht moralisch zu überleben, wenn es Menschen gibt, die man damit beschützt. Eine bedrohte, private Welt, wo es Liebe und Aufrichtigkeit gibt, woraus einem die Menschenwürde erwächst. Etwas, was die Triebe der Machtzyniker zur Zerstörung reizt wie nichts anderes, als Demonstration, dass es keinen Wert gibt außer der Lust ohne Rücksicht auf Verluste. Damit sich kein Gewissen regt und fragt, was ist der Preis.

Als im Roman dieses eigenartige, tapfere Ehepaar auffliegt, und Rudolf Schlechter, der sich den Ehebruch bieten lässt, ins Gefängnis kommt wegen „Unnationalsozialistischer Lebensweise“, schafft es Speedy erst, im diverse Hafterleichterungen zu verschaffen, und bekommt ihn sogar schließlich aus dem Gefängnis heraus – mit dem einzigen ihr als mittelloser Frau zur Verfügung stehen Mittel. Eine wahre Geschichte.

 

 

 

Schöne brave BRD

 

Ich habe Speedy vor über 10 Jahren, damals noch unveröffentlicht, gelesen wie einen Schutzzauber gegen das, was ich vom Leben vielleicht zu erwarten habe, wenn ich eintauche in die Geheimnisse Berliner Nächte. Aber die Bundesrepublik ist eben kein dekadentes Party-Reich, von wegen Bordell Europas, hier gibt es keine elitären Sexpartys, auf denen sich die Schönen der Kunst- und Halbwelt mit Ministern mischen, nicht mal in Berlin. Unsere Filmleute sind brave Beamte, die träge Fördergelder einstreichen und sogar zum Feiern zu faul sind. Unsere Potentaten sind nicht so potent, dass sie keine Angst um ihren Ruf haben müssten. In Deutschland finden Sexpartys nur für ein kleinbürgerliches Milieu statt, in spießigen Swingerclubs und netten Dominastudios, mit Hausordnung, und Luxusprostitution für die Reichen verschämt und versteckt in Hotelzimmern, einzeln, heimlich, gegen festes Honorar.

Mir kann es nur lieb sein. Ich halte mich nämlich, êntre-nous, nicht für tough genug für solche gefährlichen Drogen-Partys mit solch gefährlichen Männern. Ich bin heilfroh, dass meine Kunden überwiegend keine Schwerverbrecher oder Verbrecher gegen die Menschlichkeit sind. Die Frauen in Loro stehen alles durch, jede Erniedrigung, lachend, tanzend, ohne aus der Rolle zu Fallen, weil sie ununterbrochen koksen. Aber das kann ich nicht, weil ich nämlich schreibe. Zum Schreiben muss man Schwäche und tiefe Trauer empfinden können. Jeder weiß, dass Kokser genau das verlernen. Dafür ist Koks nämlich da. Autoren, die Kokser sind, wundern sich dann nach Jahren ihrer emotionalen und zerebralen Selbstzerstörung, dass alle so ernst geworden sind. Und das wäre mir keine Party der Weltgeschichte wert. Sottovoce: Ich bin wohl doch weniger Kurtisane, als Schriftstellerin. Aber das bleibt bitte unter uns, also wirklich, êntre-nous.