Frauen entdecken ihren Körper neu, auch dank käuflichem Sex. Welchen Einfluss könnte die weibliche Potenz auf gesellschaftliche Machtstrukturen haben? Ein Gedankenspiel.

 

VON VALERIE ZASLAWSKI

 

 

Frauen lernen schon als kleine Mädchen, was ihre Aufgabe ist: Sie werden zu «lächelnden Maschinen» erzogen. Das sagt die ehemalige Prostituierte Ilan Stephani. Später sollen sie sich – im Beruf, im Alltag, im öffentlichen Raum – um die anderen sorgen, unangenehme Situationen auffangen. Sie tun dies unbewusst. Und: stets mit einem Lächeln. Die tief verankerte Disziplinierung, wonach Frauen mehr auf das Gegenüber achten als auf sich selbst, hat aber auch Auswirkungen auf ihre Sexualität. Wieso sollten sie ihre Rolle im Schlafzimmer einfach abgelegen? So denken auch heute noch – Jahrzehnte nach der sexuellen Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – viele Frauen weniger an das Begehren des eigenen Körpers als an ihre Performance. Die Befriedigung des Partners steht dabei oft im Vordergrund, die eigene kommt zu kurz.

Mit dieser passiven Wahrnehmung der weiblichen Sexualität dürfte es allerdings bald vorbei sein, erhält die egoistische Erotik der Frau derzeit doch starken Auftrieb. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Forderungen von Populisten nach einer konservativen Familienpolitik, zu der beispielsweise auch Abtreibungsverbote gehören, formiert sich eine breite solidarische Bewegung, vielleicht eine neue Welle des Feminismus. Sie denkt das weibliche Begehren neu, denkt es aktiv und positiv, wie von Svenja Flasspöhler in ihrer Schrift «Die potente Frau» gefordert. Nicht das Nein wird demnach gestärkt, sondern die weibliche Potenz. Und zwar durch vielseitige und vielschichtige Angebote.

So bringt beispielsweise die in Zürich wohnhafte «Sexpertin» Maggie Tapert Frauen bei, wie sie mit umgeschnallten Dildos Männer penetrieren und damit dominantes Auftreten lernen können, im Sexuellen wie im Existenziellen. Tapert benutzt Sexualität, wie sie sagt, um Frauen zu «ermächtigen». Frauen sollten lernen, ihre Yang-Energie zu leben, Männer ihre Yin-Energie. Es gehe ihr darum, Frauen zur Aktivität zu ermutigen. Dabei werde die weibliche Sexualität zwar auf-, die männliche Sexualität aber nicht abgewertet.

 

Wenn Frauen für Sex zahlen

 

Die Beschäftigung mit der eigenen Lust scheint unmittelbare Folgen zu haben. Frauen werden selbstbewusster, verlieren Hemmungen und, nun ja: kaufen laut einer Studie der technischen Universität von Queensland (2017) auch häufiger Sex. Das Forschungsteam untersuchte das Online-Sex-Angebot international und kam zum Schluss, dass das Angebot an Escort-Services von Männern für Frauen und Pärchen zunimmt. In Deutschland seien es bereits 42 Prozent aller Angebote, im Vereinigten Königreich, in Uganda und Argentinien sogar über 50 Prozent. Für die Schweiz gibt es keine Zahlen. Die Studie liefert denn auch keine Erklärung, wieso das Angebot in den genannten Ländern derart gross ist.

Auch die lesbische Prostitution beginnt zu boomen. Das weiss die feministische Sexarbeiterin Kristina Marlen aus Berlin. Sie zählt mittlerweile 40 Prozent Frauen zu ihrer Kundschaft. Marlen arbeitet im Bondage-Bereich (erotisches Fesseln) und bietet tantrische Intimmassagen an; sie bezeichnet sich auch als Domina. Es habe sie Jahre gekostet, Frauen als Kundinnen zu gewinnen, sagt sie. Sie musste viel Sensibilisierungsarbeit leisten. Nun trägt ihr Einsatz Früchte.

In einem anderen Bereich, im Escort, arbeitet die Berliner Luxusprostituierte Salomé Balthus. Auch sie verzeichnet einen Zuwachs an weiblicher Kundschaft. Anders als Marlen ist Balthus im Hochpreissegment tätig und muss Frauen in der Regel keine Preisermässigungen aufgrund des Gender-Pay-Gap anbieten. Frauen seien denn auch mehr Arbeit: «Ein Orgasmus ist nicht das Ende, nach dem ich Feierabend habe, sondern erst der Anfang.» Anders gesagt: Die Lust der Frauen ist zielloser und ausschweifender. Sind sie einmal gekommen, wollen sie mehr und mehr. Und mehr.

Dafür sei die Arbeit spannender und weniger vorhersehbar als mit einem Mann, sagt Balthus. Die Frauen genössen vor allem die Tatsache, dass sie für einmal nicht performen müssten, sondern sich erlauben dürften, zu geniessen. Auch Sexarbeiterin Marlen erklärt: «Ich adressiere die Sexualität der Frau und nicht die Sexyness.» Es gehe darum, herauszufinden, was gut für sie sei, was ihr gefalle. Sie kreiere dafür einen «sexpositiven» und «achtsamen» Raum. «Es gibt hier eine Welt, in der sie für nichts sorgen müssen», sagt sie.

Frauen lernen also allmählich, in den Worten der «Sexpertin» Tapert, ihre Yang-Energien zu leben. Sie werden durch die Beschäftigung mit ihrer Sexualität selbstbewusster. Und im besten Fall nehmen sie – genauso selbstverständlich wie Männer – auch einmal sexuelle Dienstleistungen in Anspruch, durch die sie merken, dass es neben Sexyness und Performance auch noch die eigene Lust gibt.

Das sollte ja eigentlich selbstverständlich sein. Die sexuelle Emanzipation ist eine durchaus positive Entwicklung, gegen die niemand mehr etwas einwenden kann. Alle profitieren davon, Frauen und Männer. Und doch gibt es weiterhin eine tiefe männliche Furcht vor der potenten Frau. Den Expertinnen der weiblichen Sexualität begegnet sie jedenfalls täglich.

Diese Furcht gründet aber nicht nur auf der Angst vor dem verlangenden weiblichen Geschlechtsteil, in dem der Phallus zu versinken droht. Oder in Balthus’ Worten: «Die Angst des Mannes vor dem weiblichen Begehren kommt von der Angst, zu versagen.» Nein, Männer fürchteten weibliche Selbstermächtigung auch, so meint Marlen, weil sie dadurch die Macht nicht mehr für sich allein hätten. So gehe es bei der Kontrolle der weiblichen Sexualität auch immer um den Erhalt von Macht. Gemäss den Feministinnen leben wir nach wie vor in einer Gesellschaft, die durch und durch patriarchalisch geprägt ist. Was würde demnach die erstarkte weibliche Potenz für diese Strukturen bedeuten? Würde, um im feministischen Jargon zu bleiben, durch die Revolution im Schlafzimmer das Patriarchat gestürzt und stattdessen ein Matriarchat installiert? Und wäre das besser?

«Sexpertin» Tapert sagt, Ziel dürfe es nicht sein, männliches Verhalten zu kopieren. Vielmehr brauche es ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, die liegende Acht, bei der beide Seiten geschätzt würden. Auch Marlen möchte nicht in Dichotomien denken. Sie spricht bewusst von Männlichkeiten und Weiblichkeiten, wünscht sich einen respektvollen Begriff des Menschseins, eine Gleichheit der Geschlechter, auch sexuell.

 

Hurenfeindlichkeit

 

Doch das Gedankenspiel entbehrt nicht einer gewissen Ironie: So ist auch die Prostitution ursprünglich aus dem Patriarchat heraus entstanden und diente dazu, Machtstrukturen aufrechtzuerhalten; kriselnde Ehen hatten oft auch wegen käuflichen Sexes Bestand. Wenn sich nun also Frauen von Frauen bedienen lassen, dann kommt laut Marlen dem Patriarchat eines der wichtigsten Instrumente abhanden: die Verinnerlichung von Frauen, sich gegenseitig zu disziplinieren – werden sexuell aktive Frauen doch insbesondere von Frauen gerne als Schlampen bezeichnet. Die Disziplinierung hat denn auch bis heute in der Hurenfeindlichkeit Ausdruck gefunden.

Ändert sich da wirklich etwas, wird Prostitution längerfristig anders wahrgenommen und muss der gesellschaftliche Diskurs neu geführt werden – auch von Feministinnen wie Alice Schwarzer. Man müsste das Geschlechterbild aus dem 19. Jahrhundert, das von einer unbefleckten Frau als Idealbild ausgeht, revidieren. In der heutigen Erzählung über Sexarbeit gibt es keine Prostituierten, die ihre Arbeit gerne machen, die nicht ausgebeutet oder traumatisiert sind. Diese Interpretation sage viel über die Wahrnehmung weiblicher Sexualität aus, so Marlen. Dies solle indes nicht heissen, dass es keine Zwangs- oder Armutsprostitution gebe, die in Zeiten prekärer Arbeitsverhältnisse unbestritten stattfinde. Dennoch: «Die sexuell aktive Frau ist ein Tabu!»

Falls die Sexarbeiterin recht hat und Frauen im Schlafzimmer nach wie vor die passive Rolle innehaben, müsste man anfügen: noch. Doch die weibliche Sexualität ist im Umbruch. Und das Ziel dieser Odyssee der Lust ist kein geringeres als deren Befreiung. Männer sind natürlich eingeladen, mit an Bord zu kommen, machen Entdeckungsfahrten gemeinsam doch am meisten Spass.

 

Quelle: NZZ, 20.9. 2019

 

Bei der Emanzipation hilft die Prostitution