Manchmal kann man nur mit Fachkräften reden. Meine Kollegin Miranda, eine Fachkraft, will sich mit mir austauschen:
– Grauenvoller Podcast bei ZEITonline! Ich hab dir grad nen Link geschickt. Musst du dir anhören! Die ZEIT ist jetzt auch schon gekapert von den Abolitionistinnen! Nach deinem Outing müssen die wohl beweisen, dass sie die guten Sitten einhalten.
Ich höre also rein in den ZEIT-Sexpodcast, mit dem Oh-my-god-haften Titel „Ist das normal?“
Da geht es um alles, was nach Ansicht der Macher eben nicht normal ist. Der Podcast könnte also ruhig Anti-Sex-Podcast heißen.
Bei dem Format handelt es sich übrigens um das, was wir Philosophie-Studenten als „sokratischen“ Dialog gepriesen bekamen. Das bedeutet, es ist eigentlich gar kein echter Dialog, sondern der eine Dialogpartner liefert die unumstößlichen Fakten, der andere sagt, wie krass er die findet, und dann sagt wieder der erste, auch er fände das krass. Krass!
In gleich zwei Folgen geht es um meinen Beruf: „Blowjob auf Bestellung“ und „Der hohe Preis von käuflichem Sex“. Titel, so wertfrei wie das Abi-Zeugnis, das die Tatort-Klischee-Prostituierte nicht hat. Mich interessiert ja die Meinung Außenstehender zu meinem Beruf immer sehr. Erfahrungen habe ich ja selber. Vorurteile hingegen kann man sich nicht ausdenken, und sie sagen so viel über die Leute, die sie haben, und die Gesellschaft als Ganzes, und überhaupt!
Miranda ruft wieder an, mit Grabesstimme:
Ist es normal, für Sex zu bezahlen?
Mir fällt als Antwort auf die Frage spontan ein: Na klar – wenn er Geld kostet?
Ich finde es wunderbar, dass man mich für einen Service, den ich gegen Entgelt anbiete, sogar bezahlt. Aber Miranda regt sich weiter auf: In was für einer Gesellschaft wollen leben? Ist es zumutbar in der Bahn neben einem Typen zu sitzen, der vielleicht schon mal Oralsex hatte, und diesen wohlmöglich gar im Internet bestellt hat? Und das sollen total viele sein, allein in Deutschland! Über eine Million am Tag!
So viele? Ein Wahnsinn. Wozu müssen wir uns eigentlich noch in einer Huren-Kartei registrieren lassen, wenn doch unsere Zahl und unser Umsatz so genau erfasst sind? Aber was mich wirklich wundert, wie schafft man es eigentlich, an solche Zahlen zu kommen? Das müssen die Macher dieser dubiosen Studie aber ganz gefickt eingeschädelt haben! Warum klagen dann alle, dass sie nicht genug Kunden haben, und investieren Unmengen Zeit in SEO und Marketing?
Tja, sagt Miranda: der typische Freier geht halt nicht zu so priwilligierten Zicken wie uns! Das sind Typen, die auf echte Erniedrigung stehen, Frauenhasser, Perverse, Looser! Denen sind wir nicht Opfer-mäßig genug. Da haben sie übrigens was gemeinsam mit den Abolitionistinnen! Die wollen uns doch auch ausschließlich als Opfer sehen. Die meinen, Prostituierte wird man nicht freiwillig, sondern durch Missbrauch in der Kindheit, Not und Elend, einen Dachschaden… Vor allem die zweite Podcast-Folge! Prostitution gleich Gewalt. Vergewaltigungen am laufenden Band, ein Leben als rechtelose Sexpuppen für die bösen Männer mit ihren ekligen Körpern und ihren brutalen Verhaltensweisen. Hast du die Stelle gehört mit den ausgekugelten Gelenken und Knochenbrüchen?
– Hach, immer diese Knochenbrüche!
Miranda doziert: Verständlich, dass wir alle über kurz oder lang verrückt werden. Ich meine, wir waren es ja vorher schon, sonst wären wir keine Prostituierten geworden. Aber spätestens nach den ersten Tagen im Puff werden wir vraiment gaga! 2 von 3 Prostituierten leiden angeblich unter posttraumatischem Belastungssyndrom. Das ist das, was KZ-Überlebende und Kriegsheimkehrer haben. Diese Flash-Backs und ständigen Alpträume, wie nach einem schweren psychischen Schock. 2 von 3! Also entweder du, Salomé, oder ich. Oder sogar wir beide.
– Wie bitte? So was soll ich haben? Das würde mir doch auffallen!
– Als Symptome gelten schon häufige Müdigkeit und Stressanfälligkeit, und der regelmäßige Konsum von harten Drogen wie Alkohol, vor allem während der Arbeit, um das alles zu ertragen.
– Harte Drogen wie Schlampagner?
– Im Ernst: Das ist doch bizarr! Glaubt die ZEIT diese Gräuel-Propaganda? Hat die keine Angst vor Fake News? Tag für Tag Geschlechtsverkehr mit 40 Männern und mehr! Das sind doch Porno- Phantasien schlecht gefickter Aboli-Lesben!
– Mäßigen Sie Ihren Ton, Frau Kollegin!
Solche Stories, denke ich mir, berichten halt die, die in die Therapeutinnen-Finger von Sexualpsychologinnen wie der in dem Podcast geraten. Während ich hingegen niemals den Fuß in eine psychologische Praxis setzen würde, solange ich noch einigermaßen alle beisammen habe.
Nun also auch die ZEIT, sage ich. Ist eben eine christliche, anti-liberale Zeitung. Was ist nur aus dem guten, soliden Journalismus geworden. Heiße Luft! Lass sie reden. Lass sie schreiben.
Wir müssen was tun, sagt Miranda.
Was sollen wir denn tun? Das ist eine wahrhaft philosophische Frage! Hättest du mit mir als Philosophie-Studentin in der Uni gesessen, in einem stickigen Seminarraum, hätte ich folgende Wortmeldung an dich adressiert: Dass eine Gesellschaft Normen aufstellt, ist – normal. Doch erst wo das Wohlanständige, die Norm, die Langeweile aufhören, beginnt Erotik. Sie ist stets ein Skandal. Stets provokant, aufregend, reizend. Niemals jedoch ist sie OK. Wer okayen Sex haben will, kultiviert nicht den erotischen Reiz, er beseitigt ihn. Erotik, diese Nachtseite des Menschlichen, kann nicht OK sein. Sonst wäre sie alberne Wellness, ohne dunkles Geheimnis, eben nicht: erotisch. Also ist es doch gut, dass man von uns Huren sagt, wir seien nicht normal? Wer möchte schon normal sein? Der Normalo ist der Feind des Besonderen. Jeder wäre doch gern etwas Besonderes!
Das denkst auch nur du, sagt Miranda. Weil nämlich alle denken, sie wären gern etwas Besonderes, ist dieses Besondere gar nichts Besonderes. Wenn dann aber einer wirklich so ist – besonders – dann ist er zu besonders.
Rette sich wer kann!
Und dann legte Miranda richtig los, Kraft ihrer Fachkraft: Merkst du eigentlich nicht, wie ernst das ist? Die meinen direkt uns. Besser gesagt dich, Salomé. Sie unterscheiden Huren in nur zwei Typen: Solche, die den Kunden vormachen, es ginge ihnen gut: um die Kunden nicht zu verschrecken, oder weil irgendein Zuhälter es befiehlt. Und solche, die sich selbst vormachen, es ginge ihnen gut: scheinbar selbstbestimmte Opfer von schweren psycho-sozialen Defekten, denen die Fähigkeit fehlt ihre eigene Lage mündig zu beurteilen. Die nicht wissen, was für sie OK ist. Insbesondere jene, die sich politisch für Sexarbeit in der Öffentlichkeit einsetzen. Damit bist auch du gemeint!
Das Verleugnen der Krankheit gehört zum Krankheitsbild – Lieblings-Tool der Psychologen-Zunft. Der Zirkelschluss ist, dass als Beweis für die psychische Krankheit einer Hure schon genügt, dass sie Hure ist. Ob freiwillig oder nicht, wird Makulatur. Der Mythos der Freiwilligkeit. Wording made by Alice Schwarzer! Jetzt heißt es auf der Hut sein: Noch ein paar weitere Umdrehungen des rechts- konservativen Rollbacks, und wir dürfen nicht mehr den Kopf zu weit rausstrecken, oder sie kommen und holen uns. Nicht die Sittenpolizei wie früher, sondern die mit der Zwangsjacke! Verstehst du, das ist nicht nur beinahe Nazi-Sprech. Das Framing des Anders-Seienden als krank, als zu eliminieren, ist faschistische Rhetorik par excellence!
– Musst du gleich die Nazi-Keule schwingen?
– Wenn ́s doch passt, in diesen Zeiten? Wir müssten sie bloßstellen, ein für alle mal! – Ach was. Hör lieber auf Nina Hagen.
– Nina Hagen?!
Es ist gut, dass es Nina Hagen gibt. Und auch die Initiative zur Patientenverfügung, für die Nina als Schirmherrin sogar in einem Video Werbung macht. Ich schicke Miranda den Link.
Vielleicht wäre es wirklich gut, eine Patientenverfügung zu unterschreiben. Damit wären wir davor geschützt, zwangseingewiesen zu werden. Oder, wie Nina es formuliert: „Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!“
Aber Miranda zieht ihre eigenen Konsequenzen:
Weißt du was? Wenn es bei mir irgendwann nicht mehr läuft, ich keine Kunden mehr kriege, werde ich halt Berufsopfer. Ich steige aus und erzähle überall in den Medien wie ferngesteuert und gemindfucked ich war. Ich erkläre super tiefgründig, wie ich dauervergewaltigt wurde von der Gesellschaft, der Vergewaltigungskultur und solchen Lobby-Prostituierten wie dir. Dann beginnt meine zweite Karriere als Prostitutionsüberlebende. Damit kriege ich richtig Aufmerksamkeit. Und dann komme ich auch mal in die Zeitung, so wie du! Vielleicht tingele ich sogar durch TV-Sendungen! Geile Details fallen mir dann schon ein. Denn weißt du schon das Neueste? Sex sells!
Den Rest unseres Gespräches lasse ich unerwähnt – zu viel Fach-Chinesisch, als dass der Otto- Normal-Leser es verstünde. Manchmal kann man halt nur mit Fachkräften reden.
Klug und witzig, also geistreich, geschrieben. Gefällt mir. Die heraufziehende Drohung ist allerdings nicht zu unterschätzen, fürchte ich… Beste Grüße euch!
Der Link zum Beitrag “Der hohe Preis von käuflichem Sex” funktioniert nicht. Hier ist er nochmal:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-06/sexarbeit-prostitution-prostitutionsschutzgesetz-sexuelle-gewalt
Das ist ein Text, der an einen außenstehenden Leser hohe Ansprüche stellt, wenn der sich mit der Angelegenheit auseinandersetzen will. Erstens muss man mindestens die beiden Podcasts gehört haben. Zweitens stellt man dann womöglich (und ich meine auch: hoffentlich!) fest, dass das nicht reicht, um zu einer eigenen Position zu gelangen. Notwendig dafür ist nämlich,
ein Bild davon zu bekommen, was die Macher des Sexpodcasts beabsichtigen. Darum geht es ja ganz wesentlich in dem Artikel; und die Absichten zu kennen ist Voraussetzung dafür, eine Meinung zu dem Artikel haben zu können.
Auf jemanden wie mich, der noch nicht viel weiß, wirkt der Artikel etwas hysterisch und auch verallgemeinernd. Er geht relativ wenig auf die Podcasts im Einzelnen ein, oder zumindest muss man suchen, um dort die Auslöser für die im Text zu lesenden Reaktionen zu finden. Und wenn ich sie nicht finde, denke ich zwangsläufig an den Strohmann… Eine Ausnahme ist natürlich die Frage “Ist es normal, für Sex zu bezahlen”. Die kommt im ersten Podcast gleich als erstes, und die im Artikel gegebene Antwort kann wieder wach machen, wenn einen die von Frau Büttner gegebene eingelullt hat.
Bleibt noch die Frage, was man von den herangezogenen Studien halten kann. Hat man überhaupt eine Chance, das richtig einzuschätzen? Immerhin liefert die ZEIT die Verweise zu den Dokumenten. Zunächst kann man die und ihre Quelldokumente also lesen, den Inhalt – so man kann – fachlich bewerten und dabei ggf. Hilfe von Fachkräften(!) zu Rate ziehen; zudem die Autoren der Gutachten ausfindig machen und versuchen diese einzuschätzen, insbesondere in Hinblick auf ihre Interessen und Absichten.
Liebe Salomé,
Der ZEIT-Podcast von Alina Schadwinkel und Melanie Büttner ist meines Erachtens sachlich und informativ. Frau Büttner macht deutlich, dass es im Escort selbstbestimmte, somit legitime Sexarbeit gibt. Diese ist jedoch – wie HETAERA – eine rare und rühmliche Ausnahme.
Ich sehe in der Prostitution eine Kultur, die wie jede andere Kultur (Musik, Malerei, Religion, wie auch die Stimulans durch Tabak, Alkohol und Drogen) die Grenzen des ‚Gesunden Menschenverstandes‘ überschreitet. Die größten Dichter waren Säufer und Psychopaten, die wundervollsten Musiker rauschgiftsüchtig. Wünschen wir uns Mozart oder Jimi Hendrix deshalb in die Entzugsanstalt? Hölderlin oder Kafka in die Psychiatrie?
Menschen zu diskriminieren, die von der Norm abweichen, war schon immer das Maximum an Menschenfeindlichkeit.
Wenn Frau Schadwinkel und Frau Büttner den ZDF-Bericht „Bordell Deutschland“ zitieren und den Ex-Kriminalkommissar Manfred Paulus, dann schöpfen sie aus fauligen Quellen.
So gesehen gefällt mir Deine pointierte Polemik, auch wenn sie den ZEIT-Podcasterinnen oft nicht gerecht wird. Doch sowie die ZEIT-Leser müssen auch wir und dafür hüten, unsere persönliche Moral zu verallgemeinern. Sogar Kants Kategorischer Imperativ geht – wie Du als Philosophin ja weist – kategorisch schief.
Gruß von Carlos
Bei den Normen tue ich mir etwas schwer, dem fiktiven Seminareinwurf zu folgen. Einer Norm geht ja mehr oder minder ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess – bewusst oder unbewusst – voran, wenn die Norm ihre Funktion zur Organisation menschlichen Zusammenlebens erfüllen soll. Das Erotik erst dort beginnt, wo diese Norm verlassen wird, halte ich für etwas weit hergeholt. Erotik definiert sich nicht in Bezug auf die Gesellschaft, sondern hinsichtlich der erotisch erfassten Individuen. Erotik kann sich durchaus auch innerhalb normativer Grenzen abspielen. Aber da mag die Sicht des Soziologen mit der der Philosophin kollidieren…
Gleichwohl – einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess zum Thema Prostitution gibt es kaum. Was auch daran liegen mag, dass sich selten bis nie Kunden finden, die in der Debatte das Wort ergreifen. Zumindest nicht erkenntlich. Und auch nur selten Frauen, die das Licht der Öffentlichkeit so wenig scheuen wie sie. Dafür ausreichend Personen mit gewissem Sendungsbewusstsein, die der Debatte aber selten zuträglich sind…